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"Nie gross Kontrolle": Angeklagter (links) vor Gerichtsgebäude, Verteidiger
"Ich konnte nicht wahrhaben, dass ich versagt habe"
Ein Gerichtssaal voller Fragezeichen: Auftakt zum Prozess gegen einen Sissacher Treuhänder, der gegen alle Berufsprinzipien handelte
Von Peter Knechtli
Er schädigte während über acht Jahren Gemeinden, eine Schützengesellschft und seine Schwiegermutter um insgesamt knapp eine Million Franken: Heute Dienstag begann in Liestal der Betrugsprozess gegen einen gescheiterten Sissacher Treuhänder – ein Fall wie im falschen Film.
Der Baselbieter Strafgerichtspräsident Adrian Jent stöhnte, lachte, atmete tief durch, verwarf die Hände, rieb sich mal die Augen, dann die Stirn. Langjährige Prozessbeobachter haben ihn selten so eindringlich erlebt. Immer und immer wieder versuchte er aufs Neue, die Gedankenwelt des 57-jährigen Angeklagten zu ergründen: "Waa-rumm?" fragte er den eidgenössisch diplomierten Treuhänder B.B. immer wieder eindringlich, aber einfühlsam und nie verletzend.
"Sie sind nicht dumm, Herr B."
Dieser erfahrene Richter, der früher als Staatsanwalt so manchen Schurken vor die Schranken gebracht hatte, bekundete – wie so manche, die sich mit diesem Fall beschäftigen – berechtigte Mühe, die Divergenz zwischen Anspruch und Berufsrealität des Treuhänders auch nur ansatzweise zu begreifen. "Verstehen Sie mich? Ich will Sie verstehen", sagte er einmal bei der Befragung zur Person in einem Verfahren, dessen Akten zwanzig Bundesordner umfasssen und bei deren Studium Ströme von Leuchtstiften geflossen sein müssen.
Der Angeklagte half ihm dabei nicht. Auf Fragen reagierte er meist nach dem selben Muster: Er hielt einen Moment inne, zuckte dann mit den Schultern und schüttelte anschliessend den Kopf. Es folgten oft Satzfragmente oder ganz einfach gestrickte Wortfolgen wie "Ich weiss es nicht." Richter Jent konnte sich schliesslich die Bemerkung nicht verkneifen, er könne dem Angeklagten Blauäugigkeit oder Naivität nicht abnehmen: "Sie sind nicht dumm, Herr B.", versuchte er den Mann auf der Anklagebank, der seine KV-Lehre immerhin mit einer Note von 5,3 abschloss, zu einer substanziellen Aussage zu motivieren.
Aus dem Arbeiter-Milieu zum Unternehmer
Der Angeklagte war nicht irgend einer. Er war Gemeindeverwalter und Gemeinderat von Sissach – ein Sissecher" durch und durch, bodenständig, mit der Schützengesellschaft und dem EHC Zunzgen-Sissach als Kassier eng verbunden. Er machte sich vor zehn Jahren mit einem eigenen Buchhaltungs- und Treuhandbüro selbstständig.
Als Sohn eines Chemiearbeiters und als eines von sechs Kindern wuchs er in bescheidenen Verhältnissen auf. Zur Aufgabe der Eltern gehörte nicht nur das Aufziehen der sechs Kinder, sondern auch das Putzen der Sissacher Post im Nebenamt, damit das Geld reichte.
Nun wollte der Buchhalter im besten Alter zum Unternehmer werden. Ein Eigenheim und eine Eigentumswohnung, ein Weinlager waren Statussymbole, die der frischgebackene Finanzfachmann sein Eigen nennen konnte. Vom Büro im privaten Bastelraum ist im recht aufwändig gestalteten Firmen-Promotionsfilm, der die Anmutung von Dynamik und Erfolg versprüht, nichts mehr zu erkennen.
Angst vor dem Status-Verlust
Doch das war alles nur Fassade. Als gebrochener Mann sagte er heute Dienstag vor Gericht: "Spätestens Ende 2003 hätte ich sagen müssen: Fertig!" Er habe einen besseren Geschäftsgang erwartet, aber vor allem die "lukrativen Mandate aus der Privatwirtschaft" hätten sich nie im erhofften Mass akquirieren lassen. Doch weder dann noch später hatte er den Mut, die Notbremse zu ziehen: "Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich versagt habe." Er habe, fügte er noch an, "immer den richtigen Zeitpunkt verpasst". Auch aus Angst vor "narzisstischer Kränkung", wie der Richter vermutete, und vor dem Verlust seines gesellschaftlichen Status.
Der Angeklagte hatte zwei Seiten. Mit seiner markanten Erscheinung und seiner scheinbaren Fachkompetenz gewann er das Vertrauen jener, die froh um seine Dienste waren und die er später ausnützte: Die Gemeinden Zunzgen, Diepflingen, Birsfelden, Kappel SO, in denen er im Mandatsverhältnis als Interims-Finanzverwalter eingesetzt war, sowie die Schützengesellschaft Sissach und seine Schwiegermutter(siehe Vorschau-Link unten). Mit Dutzenden deliktischen Transaktionen erleichterte er sie um gesamthaft fast eine Million Franken, mit der er meist geschäftliche und private Rechnungen bezahlte und Bedürfnisse befriedigte.
Mut zum Gang nach Canossa
Sein System von Geldabzweigung und Löcherstopfen blieb den dem "Prinzip Hoffnung" (Jent) über acht Jahre unbemerkt, bis zum Tag im März letzten Jahres – die Abschiedsbriefe waren schon geschrieben –, als er Suizid begehen wollte. Ausdrücklich lobte der Richter indes den Angeklagten, dass er den letzten Schritt doch nicht gemacht, sondern den Mut zum "Gang nach Canossa" gefasst habe. Die Vorwürfe von Staatsanwalt Klaus Koschmann: Betrug, Verunteuung, ungetreue Geschäftsbesorgung, Urkundenfälschung.
Seine andere dunkle Seite zeigt einen ungetreuen Treuhänder, der einerseits vor deliktischen Machenschaften nicht zurückschreckte und anderseits mit dem berufsethischen Bewusstsein eines Lehrlings ausgestattet schien. "Wie kommen Sie dazu, alles über Bord zu werfen, was Ihre Berufsehre ausmacht?" fragte ihn ein sichtlich fassungsloser Richter.
Gemeint war unter anderem die riskante Täuschung von Zweitunterschriftsberechtigten beispielsweise durch Austauschen von Einzahlungsscheinen (so der Vorwurf des Staatsanwaltes), als er sich immer wieder kommunales Steuergeld auf sein Firmenkonto oder an den Eishockey-Club überwies (und sich dann aus der Hockey-Kasse zu bedienen). Selbst ein Darlehen seiner Schwiegermutter von 180'000 Franken zur Amortisation von Hypotheken setzte der Buchhalter nur im Umfang von 49'000 Franken für diesen Zweck ein.
Vertrauen in den "Retter in der Not"
Aus den Zeugen-Aussagen der damaligen Zunzger Gemeindepräsidentin und Religionslehrerin Ruth Sprunger, die sich "in Buchhaltungsfragen absolut nicht auskannte", und einer Verwaltungsangestellten geht hervor, dass die Kontrolle der Zahlungslisten wohl auf "vollem Vertrauen" in den "Retter in der Not" (Sprunger über den Angeklagten) basierte, die Zahlungsaufträge aber nicht mit "Vertrauens-Blindunterschriften" versehen wurde. "Eine Zahlung von 100'000 Franken an den EHC hätte ich nie unterschrieben", entgegnete Sprunger auf eine Bemerkung des Angeklagten, sie habe "das Zeug nicht angeschaut".
Dem Beobachter blieb der Eindruck des pragmatischen, auf Vertrauen in den Profi basierenden Vorgehens – erst recht in einer Gemeinde mit Personalproblemen, wie sie damals in Zunzgen herrschten. Die Zahlungen mussten eben dann gemacht werden, wenn der mandatierte externe Finanzmanager sporadisch auf der Gemeindeverwaltung erschien.
"Wie russisches Roulette"
Auf die Frage des Vorsitzenden wie er reagiert hätte, wenn die Gemeindepräsidentin, misstrauisch geworden, "wedelnd mit dem Beleg gekommen" und die Selbstbedienung aufgeflogen wäre, meinte der Angeklagte, dann hätte er gesagt, es habe sich um "einen Fehler" gehandelt. Staunen beim Richter: "Schon fast russisches Roulette war das!"
Mit seinen meist knappen Antworten trug der Mann vor den Schranken des Gerichts, der über sein relativ bescheidenen Einkommen als Unternehmer "nie gross Kontrolle geführt hat", wenig zur Erhellung seiner wahren Motive und die Gründe seines immensen Geldbedarfs bei.
Seine Aussichten sind trübe. Glück hat er zwar bezüglich eines Strafbefehls von 40 Tagen Gefängnis bedingt auf zwei Jahre durch das Statthalteramt Sissach aus dem Jahr 2006: Die Frist ist abgelaufen. Doch es folgen verschiedene Zivilforderungen. Ob ihm seine Ehefrau verziehen habe, wollte der Richter vom Angeklagten wissen. Die Antwort: "Ich kann es nicht sagen. Sie hat Zukunftsangst." Ihr Vertrauen in ihn sei "zu Recht in Frage gestellt".
Weitgehend voller Fragezeichen blieb am ersten Verhandlungstag auch der Gerichtssaal in Liestal. Das Urteil wird auf Freitag erwartet.
6. Dezember 2011
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