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"Die Situation falsch eingeschätzt": Basler Grossrats-Präsident Gallacchi
Remo Gallacchi: "Da begann es in meinem Kopf zu rattern"
Wie der Basler Gossrats-Präsident die Ausweisung einer Grossrätin mit ihrem zweieinhalbmonatigen Kind aus dem Ratssaal erlebte
Von Peter Knechtli
Tumult im Basler Rathaus und landesweites Medien-Echo löste der Buschi-Bann des Basler Grossrats-Präsidenten Remo Gallacchi (CVP) aus. Im OnlineReports-Interview räumt er Fehler im Vorgehen ein. Er hält seinen Entscheid, dass Babies im Grossrats-Saal keinen Platz haben, aber für richtig.
OnlineReports: Herr Gallacchi, wie haben Sie als Grossrats-Präsident den Tumult um die Präsenz der grünen Grossrätin Lea Steinle mit ihrem zweieinhalbmonatigen Baby im Ratssaal erlebt?
Remo Gallacchi: Ich sah überraschenderweise, dass sich Grossrätin Lea Steinle mit ihrem Buschi hinten stehend im Grossrats-Saal aufhielt. Da begann es in meinem Kopf zu rattern und zu überlegen: Was jetzt, wenn ein Parlamentarier zu mir kommt und sagt, das gehe nicht?
OnlineReports: Was ging Ihnen dann durch den Kopf?
Gallacchi: Ich habe dann für mich niederschwellig entschieden: Nein, es geht so nicht. Ich ging direkt zum grünen Fraktionspräsidenten Jürg Stöcklin, nahm ihn aus dem Grossrats-Saal und teilte ihm unter vier Augen meine Beweggründe mit. Dann bat ich ihn, er soll Lea Steinle meine Haltung mitteilen in der Hoffnung, dass die Baby-Frage nachträglich geregelt werden kann.
"Meine Einschätzung ging voll in die Hose, weil sich Frau Steinle schockiert zeigte."
OnlineReports: Und dann?
Gallacchi: Meine Einschätzung ging voll in die Hose, weil sich Frau Steinle schockiert zeigte und sich sofort ein paar Grossrätinnen mit ihr solidarisierten. In dem allgemeinen Tohuwabohu entschied ich mich dann, meinen Entscheid zurückzunehmen. Ich befürchtete, dass es zu einem Sitzungsabbruch gekommen wäre, wenn ich auf meinem Entscheid bestanden hätte.
OnlineReports: Welches ist Ihre persönliche Meinung: Sollen sich Mütter mit Babies unter bestimmten Bedingungen im Grossrats-Saal aufhalten können?
Gallacchi: Das gültige Reglement ist klar, indem es abschliessend aufzählt, wer zum Saal Zutritt hat. Kinder von Grossräten gehören nicht dazu. Nach meiner Überzeugung macht es keinen Sinn, zu regeln, wo die Grenze zu ziehen ist. Sind zweimonatige Buschis erlaubt? Viermonatige? Zweijährige? Mit oder ohne Kinderwagen?
OnlineReports: Sie halten sich heute Freitag gerade am Treffen der Parlaments-Präsidien in Sion auf. Wie reagierten ihre Amtskollegen?
Gallacchi: Ich habe beispielsweise erfahren, dass der Zutritt von Kleinkindern im Saal des Freiburger Kantonsparlaments explizit verboten ist.
OnlineReports: Wie waren in Basel die Reaktionen auf Ihren Entscheid?
Gallacchi: Es gab einige Mails und sehr viele Medienkommentare. Mein Entscheid wurde zu etwa 80 Prozent positiv aufgenommen.
OnlineReports: Von welcher Seite kamen die kritischsten Reaktionen?
Gallacchi: Von linker Seite. Die Frauen waren in ihrer Meinung aber geteilt.
OnlineReports: Welches sind Ihre Schlüsse – braucht es eine Präzisierung der Reglemente?
Gallacchi: Nein, eine Präzisierung der Reglemente braucht es nicht. Bis zur Dezember-Sitzung sollte diese Frage durch das Ratsbüro auch offiziell geklärt sein.
"Frau Steinle hat mich nicht gefragt, ob sie ihr Baby in den Ratssaal mitnehmen dürfe."
OnlineReports: Wie werden Sie reagieren, wenn Frau Steinle erneut mit ihrem Buschi im Ratssaal erscheint?
Gallacchi: Sie wird das sicher nicht mehr ungefragt tun. Sie hat mich am Mittwoch nicht gefragt, ob sie ihr Baby in den Ratssaal mitnehmen dürfe. Sonst wäre vermutlich alles anders herausgekommen. Konkret möchte ich mich zu Ihrer Frage nicht äussern, um nicht die künftige Praxis meiner Nachfolge zu präjudizieren. Mein Präsidialjahr läuft ja Ende Januar aus.
OnlineReports: Ihr Fazit rückblickend?
Gallacchi: Es war ungeschickt, den Entscheid während einer Sitzung zu fällen. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Die Frage hätte im Ratsbüro entschieden werden müssen. Ich persönlich finde es nicht gut, wenn Kleinkinder, egal welchen Alters, sich im Saal aufhalten.
OnlineReports: Zu den kritischen Reaktionen gehörte jene, die ihnen vorwarf, ausgerechnet als Mitglied der Familienpartei CVP eine Mutter mit Buschi auszusperren. Hat Sie das getroffen?
Gallacchi: Nein. Mit Familien- oder Frauenfeindlichkeit hat das überhaupt nichts zu tun. Ich habe diese Grundsatzfrage für mich entschieden. Deshalb belastet mich auch der gesamtschweizerische Hype nicht, der jetzt entstanden ist.
OnlineReports: Immerhin haben Sie beide jetzt eine riesige Publizität erzielt.
Gallacchi: Das war weder meine Absicht noch jene von Lea Steinle. Den Tumult haben andere verursacht.
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23. November 2018
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"Deplatzierter Einwurf"
Herr Heubergers Einwurf, dass "… Gallacchi zuerst das Gespräch mit Frau Steinle hätte suchen sollen …" finde ich persönlich nicht richtig. Umgekehrt wird auch ein Schuh draus: Wäre es nicht anständiger gewesen, Frau Steinle hätte den Präsidenten des Parlamentes zumindest informiert, dass sie mit einem Kleinkind für kurze Zeit in den Saal komme, um eine Abstimmung zu machen?
Das "fehlende Fingerspitzengefühl" finde ich ebenso deplaziert: Denn welcher Grossratspräsident oder Politiker zeigt nach dem Vorfall die Grösse und gibt Fehler zu und zeigt eine glaubhafte Anstrengung, die Sache klar und fair zu regeln? Diesem Politiker traue ich als Menschen und als Vorgesetzter in jedem Falle mehr als vielen KommentatorInnen dieses Vorfalles. Das ist ja zum Teil jämmerlich, welche staatstragenden Auswirkungen diesem vermeidbaren Tumult angedichtet werden. Fehlt noch eine #MeToo-Verunglimpfung oder eine Klage wegen Diskriminierung ...
Daniel Thiriet, Riehen
"Fehlendes Fingerspitzengefühl"
Wie kleinkariert doch gewisse Eidgenossen schon geworden sind. Was in etlichen Ländern auf der Welt längst praktiziert wird, ebenso in diversen Gemeinden der Schweiz, wird in Basel zum Problem. Herr Gallacchi wäre gut beraten gewesen, zuerst mal das Gespräch zu suchen statt Frau Steinle aus den Saal zu komplimentieren. Dass er nun im Interview meinte, den Tumult hätten andere zu verantworten, zeigt für mich das fehlende Fingerspitzengefühl bei diesem Thema, was mich umso mehr überrascht, ist er doch Mitglied einer Christlichen Volks-Partei, die sich ja der Familie verpflichten fühlt. Kurzsichtig, kleinkariert und armselig sind auch jene die meinen, mit Hass-Mails wäre das Problem gelöst. Übrigens kann ich das Statement von Paul Müller voll und ganz unterstützen.
Bruno Heuberger, Oberwil
"Kindswohl nicht im Zentrum"
Gemäss einer Studie, die vor Jahren in der Sendung "10vor10" vorgestellt wurde, beläuft sich der Lärmpegel im Nationalratssaal auf rund 70 Dezibel (dB). Das Arbeitsgesetz legt für "überwiegend geistige Tätigkeiten" einen Grenzwert von 50 dB, für "allgemeine Bürotätigkeiten" einen von 60 dB fest. Der Parlamentsdienst hat festgestellt, dass bei solchen Geräuschen die Konzentration nicht über längere Zeit aufrecht erhalten werden könne.
Die Untersuchungsergebnisse und die Schlussfolgerungen lassen sich wohl 1:1 auf den Basler Grossratssaal übertragen.
Der Grossratspräsident hätte also den Platzverweis für den jungen Miro besser mit Argumenten des Gesundheitsschutzes begründet. Es ist einem Kleinkind eigentlich nicht zuzumuten, in einem derartigen Lärmpegel seinen verdienten Schlaf abhalten zu müssen. Die Gefahr einer traumatischen Störung ist nicht von der Hand zu weisen. Immerhin hat es die Mutter unterlassen, ihr Baby im Vorzimmer oder im Grossratskaffee zur "Ruhe" zu betten. Im Ratssaal, in der Regel nur spärlich besetzt, ist es dann doch vergleichsweise ruhig.
Offensichtlich stand bei der ganzen Aufregung das Kindswohl nicht im Zentrum der erregten Auseinandersetzung. Schade eigentlich!
Roland Stark, Grossratspräsident 2008/2009, Basel
"Ausdruck einer subtilen Unterdrückung"
In letzter Zeit gab es verschiedene Pressebeiträge über das Stillen von Buschis in Parlamenten, mit einigen Fotos, ich erinnere mich ans australische Parlament. Ein Politiker müsste also wissen, dass es in einem Parlament, in dem es zum Glück einige junge Frauen gibt, so ein Problem mal auf ihn zu kommen könnte.
Leider gibt es auf der Grossrats-Webseite die entsprechenden Reglemente nicht zu sehen, aber der Sinn des Reglements über die Anwesenheit ist ja wohl eher, dass das Parlament in ungestört von fremden Personen beraten und entscheiden kann. Es scheint aber auch ein anderes Reglement zu geben, worin die Anwesenheit der Grossrätinnen und Grossräte bei den Sitzungen und Abstimmungen erwünscht wird.
Also ein gewisser Widerspruch. Und eine Frage der Verhältnismässigkeit. Herr Gallacchi hätte es wie der König im kleinen Prinz machen können, der der Sonne immer dann befahl aufzugehen, wenn sie es sowieso tat - von sich aus eine mündliche einmalige Genehmigung erteilen können.
Jetzt – und das ist offenbar mittlerweile normal – wurde Lea Steinle eingedeckt mit Hate Mails und Bemerkungen in Leserbriefen, dass ich nur noch staune. Aber gemäss Interview war das bei Herrn Gallacchi nicht der Fall.
Nun die Frage: ist das etwa nicht Ausdruck einer subtilen Unterdrückung von aktiven, selbstbewussten Frauen?
Paul Müller, Stein am Rhein
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