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"Europäisches Schmuckstück": Ehemaliger EU-Kommissions-Vize Verheugen
Günter Verheugen hält der Schweiz charmant den Spiegel vor
Der ehemalige Vizepräsident der EU-Kommission sprach an der Generalversammlung der Handelskammer beider Basel
Von Peter Knechtli
Einen ungeschminkten Blick auf die Europäische Union und das schwierige Verhältnis der Schweiz zu ihr warf heute Dienstagabend der deutsche Politiker Günter Verheugen an der Generalversammlung der Handelskammer beider Basel. Der frühere Vizepräsident der EU-Kommission rief die Schweiz wie die EU zu einem "vertieften Dialog" auf.
Nur noch das Summen der Lüftungsanlagen war im Saal des Kongresszentrums zu hören, als der 71-jährige Deutschland- und Europa-Politiker in freier Rede während knapp einer Stunde zur Handelskammer-Basis über "das Verhältnis EU zur Schweiz" (so die Einladung) sprach. Kein Wunder, wurde der rechten Hand des früheren deutschen Aussenministers und FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher grösste Aufmerksamkeit der 600 Gäste zuteil: Da offenbarte sich ein intimer Kenner der europäischen Materie den Eidgenossen schnörkellos mit Stil, Charme und Selbstkritik, ohne jegliche Form von "Kavallerie"-Attitüden aufkommen zu lassen. Das kam an, wie Günter Verheugen zu den Baslern und Baselbietern sprach.
"Wir werden zu kämpfen haben"
Nach ersten aufwärmenden Freundlichkeiten ("die Region Basel – ein Schmuckstück Europas") kam der frühere Spitzenpolitiker rasch zum Grundsätzlichen der Entwicklung in der Schweiz, in Europa und der Welt. Von ihm könne aber "nicht die Lösung eines Konflikts erwartet werden, die Klügere als ich nicht haben lösen können". Verheugen räumte ein, dass sich die EU derzeit "nicht in einem besonders attraktiven Zustand" darstelle. Es gehe darum, die "schrecklichen Irrtümer der Vergangenheit" nicht zu vergessen, aber auch "unsere Vorstellungen eines menschenwürdigen Zusammenlebens auch in der Welt von morgen zu wahren".
Angesichts des Bevölkerungs-Wachstums und der Verlagerung der wirtschaftlichen Dynamik in den asiatisch-pazifischen Raum mahnte Verheugen: "Wir werden zu kämpfen haben, unseren Lebensstil, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu bewahren." Als "überzeugter, leidenschaftlicher Europäer" glaube er, dass Europa der Welt mehr zu bieten habe "als nur Gewinnstreben, Machtausübung und Unterdrückung". Angesichts dessen, "was heute ist", sei ein Scheitern des Projekts Europa zwar "nicht wahrscheinlich, aber möglich". Es seien "Erosionserscheinungen" sichtbar und "es bröckelt an allen Ecken und Enden".
Mit "Vielfalt" gegen schwindendes Vertrauen
Verheugen diagnistizierte auch eine "Zurückhaltung an Neuinvestitionen" in Europa – nicht weil Anlagevermögen fehlen, sondern wegen des "schwindenden Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die Fähigkeit der Staatenlenker der EU, das Friedens- und Wohlstandsversprechen auf Dauer einzulösen". Deshalb, so Verheugen: "Wir brauchen eine neue Philosophie für Europa", die den Schwerpunkt auf Diversität, Vielfalt und Wahlfreiheit lege und nicht auf "Gleichmacherei". Heute werde die Devise "mehr Europa" eher "als Drohung denn als Verheissung empfunden". Verantwortung dürfe aber nicht weiter zentralisiert, sondern müsse auf der "unterstmöglichen Stufe angesiedelt" werden.
In der Schweiz erkennt Verheugen "ein Land, das sich in einer Sinnkrise befindet". Das "einer sicheren Zukunft Gewisse" sei "nicht mehr da". Die Alpenrepublik wisse, dass sie von den Veränderungen um sie herum nicht unberührt bleibe. Dabei habe die Schweiz in Europa schon vor dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiaitve "einen Ansehensverlust erlitten". Indes werde der Schweizer Finanzplatz auch mit dem vertrauensbildenden Abkommen über den automatischen Informationsaustausch weiterhin "in der ersten Liga bleiben". Dazu seien aber gute Rahmenbedingungen, Innovationsfähigkeit und eine starke wirtschaftliche Basis nötig. Anderseits habe Europa auf die wachsenden Migrationsströme "noch keine Antwort". Die Lebensbedingungen der Migranten müssten "dort entscheidend verbessert werden, wo sie zu Hause sind".
Schweiz: "Störenfried, etwas querulatorisch"
Aus europäischer Optik sei der Blick auf die Schweiz "nicht unbedingt erheiternd". Vielmehr werde das Land in Brüssel "als Störenfried und etwas querulatorisch empfunden". Der bilaterale Weg sei eine absolute Besonderheit und die Schweiz stehe "nicht so hoch auf der Brüssener Agenda". Gleichzeitig lasse die politische Kommunikation zwischen der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten zu wünschen übrig, fasste Verheugen seine eigenen Erfahrungen als EU-Kadermann zusammen. Die Sichtbarkeit des Exportlandes Schweiz als politischer Partner in Europa müsse erhöht werden, empfahl er.
In seiner Einschätzung bleiben im Verhältnis Schweiz-EU zwei Probleme übrig, "die es aber in sich haben": der bilaterale Weg ohne Lösung der rechtlichen Anpassungsprobleme einerseits und die bestrittene Streitbeilegung durch den Europäischen Gerichtshof als alleinige Instanz anderseits. Plausible Alternativen konnte Verheugen dabei nicht vorlegen. Weder ein Assoziierungs-Abkommen noch eine Zollunion könnten für die Schweiz eine Lösung sein. Als langfristige "interessante neue Perspektive" nannte Verheugen die Schaffung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraums – als Binnenmarkt von Lissabon bis Wladiwostok. Bis dahin bleibe der bilaterale Weg unter Anerkennung der Personen-Freizügigkeit als "unverrückbares Prinzip" die einzige Möglichkeit.
Schutzklausel als Ausweg?
Nicht ablehnend zeigte sich Verheugen zum Vorschlag nach Schutzklauseln aus der Schweizer Wirtschaft. Doch müssten diese mit den englischen Reform-Wünschen abgeglichen werden und die Schweiz müsse sich die Frage stellen, was sie Europa anzubieten habe. Zum Schluss rief der Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder dazu auf, "uns besser zu verstehen" und einen "vertieften Dialog" zu führen. Dabei gehöre es auch zu den Aufgaben der Wirtschaftsverbände, sich einzumischen.
Handelskammer-Präsident Thomas Staehelin (kleines Bild, links) hatte zuvor in seiner Rede die Schutzklausel so definiert, dass der Bundesrat jährlich eine Schwelle für die Nettozuwanderung definiert, "bei deren Überschreiten ein Kontingentsystem wirksam wird", für das wiederum eine Obergrenze gilt. Handelskammer-Direktor Franz Saladin hob in seiner Begrüssungsansprache die Initiative seines Verbandes beim Aufbau des Schweizerischen Innovationsparks in Allschwil hervor, der bereits operativ tätig ist und vor einem Neubau für weitere 400 Forscherinnen und Forscher steht.
Die statutarischen Geschäfte gingen ohne jegliche Wortmeldungen über die Bühne, was Verheugen zu einem "Glückwunsch" zu dieser "Konsens-Demokratie" veranlasste.
2. Juni 2015
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