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"Nicht nur strafen": Delikt-Strategen Kilias, Morin, Lehner
Basler Justizdirektor will deutlich weniger Rückfall-Täter
Mit einem zweijährigen Pilotprojekt sollen Wiederholungs-Kriminelle von der schiefen Bahn geholt werden
Von Peter Knechtli
Basel-Stadt beschreitet einen schweizweit bisher einzigartigen Weg, um die Rückfallquote von Straftätern zu senken: Mit einem neuen Werkzeug sollen Untersuchungshälftlinge in einem sehr frühen Stadium in geordnete Bahnen gelenkt werden. Das zweijährige Pilotprojekt muss vom Grossen Rat noch bewilligt werden.
Die schlagzeilenträchtigen Rückfälle von Straftätern betreffen oft Taten von schweren Verbrechern: Ein erneuter Mord nach Verbüssung einer langjährigen Haftstrafe oder eine Vergewaltigung im Hafturlaub. Es ist nicht dieser Typ von Rückfällen, die der Basler Justizdirektor Guy Morin im Visier hat: "Die Kleinkriminlellen sind der Hauptfokus der Behörden." Dieser Bereich beschäftigt die Strafjustiz zu rund 90 Prozent - entsprechend hoch sind die Kosten, die allein dem Staat durch Ladendiebe, Urkundenfälscher, Hehler, Schläger oder Nullachtfünfzehn-Betrügern entstehen. Bewährungshilfe-Profis sind Klienten bekannt, die mehrere Dutzend Verurteilungen hinter sich haben, aber und immer erneut delinquieren.
Befragung nach 48 Stunden
Beim Gros der Kleinkriminellen will Morin also ansetzen mit einem Modell, das ihn und weitere Mitarbeiter nach einem Besuch in Holland überzeugte, und das auch in England angewendet wird. Das Konzept: In einem möglichst frühen Stadium - wenn möglich schon 48 Stunden nach Eintritt in Untersuchungshaft - sollen Angeschuldigte durch die staatliche Bewährungshilfe "abgeholt" werden mit dem Ziel, sie durch Befragung, Reflexion, Selbsteinsicht und Therapie von einer Wiederholungstat abzuhalten. Morins neue Strategie: "Der Strafvollzug soll nicht nur strafen, sondern auch unterstützen."
Das Projekt hat gesamtschweizerisch Pilotcharakter. Konkret geht es um ein von Holland übernommenes "vielversprechendes Diagnose- und Therapiewerkzeug", mit dem Angeschuldigte auf ihr Risiko und ihre Rückfallprognose getestet werden (Fachjargon: "Risk Assessment"). Ziel der Befragung eines Angeschuldigten ist es, die deliktfördernden Faktoren ausfindig zu machen und durch gezielte Therapie neue Straftaten künftig zu vermindern. Denn erst wenn die Gründe der Deliktbegehung bekannt sind, sei eine wirkungsvolle Therapie möglich, sagte Morin heute Donnerstag an einer Medienkonferenz.
Befragung zu 13 Lebensbereichen
Mit der neuen Befragungs- und Analyse-Software können auch der Verlauf einer Beratung oder Therapie erfasst und die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen erhöht werden. Ein solches Diagnose-Werkzeug, das "Veränderungen gezielt unterstützt" (Morin), stand der Bewährungshilfe bisher nicht zur Verfügung.
Laut Dominik Lehner, dem Leiter Freiheitsentzug und Soziale Dienste im Jutizdepartement, werden nur Untersuchungshäftlinge in das Programm aufgenommen, die dies freiwillig wünschen. Ihnen werden je fünf Fragen zu 13 Lebensbereichen - von der Deliksvergangenheit und der Anlass-Tat über die Wohn-, Arbeits- und Familiensituation bis zum Alkohol- und Drogenmissbrauch - gestellt. Aufgrund der Antworten kann die Rückfallwahrscheinlichkeit als "niedrig", "mittel" oder "hoch" eingeschätzt werden.
Besonders interessiert sind die Fachleute an den Problembereichen ("kriminogene Faktoren"), die zur vermuteten Tat führten. Die Diagnose führt einerseits zu Berichten an die nachfolgenden Behörden der Strafjustiz, anderseits bei Bedarf zur Einführung des Häftlings ins bestehende oder neue, projektspezifische Resozialisierungs-Pogramme, die erst nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft einsetzen.
Hoffnung auf Bundes-Finanzen
Morin beziffert die Kosten des auf zwei Jahre angelegten Versuchs auf 1,2 Millionen Franken. Der Justizdirektor hofft auf eine Mitfinanzierung durch den Bund - die Anfrage ist unterwegs, die Antwort noch nicht -, da dieser Versuch "für alle Kantone von Bedeutung ist". Zwei Sozialarbeiter und eine Psychologin/Kriminologin sollen für die Projektdauer teilzeitweise angestellt werden.
Zeitlich scheint sich das Justizdepartement einen gewissen Druck auferlegt zu haben: Starten sollte das Projekt bereits am 1. Januar, doch der Grosse Rat muss dazu erst noch sein Plazet geben. Morin hofft auf einen Parlamentsentscheid kommenden Januar und er ist aufgrund bisheriger Signale zuversichtlich.
Auch ein Scheitern ist möglich
Wisenschaftlich begleitet wird die Risiko-Analyse durch den Kriminologen Martin Kilias, Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. Kilias wie Morin räumten an der Medienkonferenz unumwunden ein, dass das Projekt im schlimmsten Fall auch scheitern kann. Doch unter den Projekt-Verfassern stark überwiegend ist die Erfolgs-Hoffnung, auch wenn sie sich sehr defensiv zu Ziel-Zahlen äusserten. In den Niederlanden gilt die Absicht, die Rückfallquote "um 50 Prozent herunterzufahren", wie Morin sagte. Bezogen auf Basel-Stadt hiesse dies eine Halbierung der heutigen Rückfallrate von 48 Prozent.
Auf eine Frage von OnlineReports erklärte Professor Kilias, es könne theoretisch denkbar sein, dass ein Untersuchungshäftling vom Resozialisierungsprogramm erfasst wird, der später gar nicht verurteilt wird. Für ihn als Wissenschafter von zentraler Bedeutung ist die Frage, inwiefern sich die Einstellung von Angeschuldigten in Programmen ändert im Vergleich zu Gruppen, die daran nicht teilnehmen.
Nicht das erste Pilotprojekt
Das heute vorgestellte Rückfall-Projekt ist nicht das erste schweizweite Pilotprojekt im Straf- und Deliktbereich: Auch das so genannte Monitoring - die elektronische Fussfessel im kurzzeitgen Strafvollzug - wurde erstmals in Basel getestet. Projektleiter war ebenfalls Dominik Lehner. Das Projekt entstand Ende der neunziger Jahre, als Hans Martin Tschudi dem Justizdepartement vorstand, und es hat sich nach Angaben von Fachleuten im Kanton Basel-Stadt "sehr bewährt".
15. November 2007