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"Der Mensch kann so bösartig sein": Autorin Sandra Hughes
Ein elender Verlierer, ein armes Würstchen
Die Allschwiler Autorin Sandra Hughes leuchtet in ihrem neuen Roman die Hirnwindungen eines entlassenen Buchhalters aus
Von Anna Wegelin
Der Debütroman der Basler Schriftstellerin Sandra Hughes erntete viel Lob. In ihrem eben erschienenen zweiten Roman "Maus im Kopf", der an der Grenze von Basel zu Allschwil spielt, begibt sich die Autorin auf eine szenische Reise in die klaustrophobischen Hirnwindungen eines verhinderten Amokläufers.
Montagmorgen, 8.30 Uhr. Treffpunkt mit Sandra Hughes ist eine Kaffeebar auf der Basler "Lyss". Hier kommt auch ihr Antiheld Finn Linder, im Roman "Maus im Kopf", auf einem seiner Irrwege durch Basel vorbei.
Morgenstund hat Gold im Mund: Der Montagmorgen ist eigentlich Sandra Hughes' Schreib-Halbtag. Um 7.40 Uhr geht Sohn Max aus dem Haus, 12.15 Uhr kommt er aus der Schule. Das gibt gut viereinhalb Stunden an diesem Morgen oder, wenn man den zweiten Schreib-Halbtag am Freitagmorgen dazuzählt, neun Stunden pro Woche fürs Schreiben. Schriftstellern auf Zeit, wenn nichts dazwischen kommt und der Staubsauger im Kasten, die Wäsche schmutzig und das Telefon auf dem Hörer bleibt.
Sandra Hughes (43) ist Berufsfrau und Familienfrau. Ihr Alltag ist durchorganisiert. Zweieinhalb kompakte Tage die Woche arbeitet sie bei den Museumsdiensten Basel im Bereich Bildung und Vermittlung. Im Januar 2001 führte sie mit den Museen Basel die erste "Museumsnacht" durch, sieben Jahre leitete sie das Projekt. Hughes lebt mit Mann und Sohn in Allschwil. An den Wochenenden kommen oft seine beiden älteren Kinder zu Besuch. Ihre Ego-Zeit setzt sie fürs Schreiben am Computer ein.
Aus heiterem Himmel
"Das Schreiben kam aus heiterem Himmel", erzählt die Autorin, die 2003 mit dem viel beachteten modernen Schelmenroman "Lee Gustavo" debütierte. Sie komme eigentlich vom "Basteln" her. Während ihres Studiums der Kunstwissenschaft in Basel betrieb sie mit einer Freundin ein Atelier in einem alten Gewächshaus in Dornach. Dort entstanden "verspielte Objekte": etwa Tastkisten oder eine Klötzliskulptur aus Gips zum selbst Zusammensetzen.
Als sie im Sommer 1998 zwischen zwei Anstellungen zweieinhalb Monate Zeit zum Verschwenden hat, beginnt sie mit Schreiben. Ihr erster Versuch ist eine autobiografische Erzählung über ihre Suche nach dem Vater, der in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, als sie zwei Jahre alt war. 20 Verlagen schickt sie das Manuskript zu. Drei positive Reaktionen kommen zurück, darunter der sinngemässe Satz von Liliane Studer, ihrer heutigen Verlegerin beim Limmat Verlag, sie solle dran bleiben und die Ich-Figur mehr herausarbeiten. Das Manuskript bleibt liegen.
Als Max mit drei in die Spielgruppe geht, setzt sich Sandra Hughes wieder an den Schreibtisch. 2003 erscheint ihr erstes Buch "Lee Gustavo", die Abenteuer des unverbesserlichen Überlebenskünstlers Lee Gustavo. Es kommt gut an in der Literaturkritik: Die Schweiz hat eine neue Erzählstimme.
Einer gegen alle
Und nun also das zweite Buch, das es bekanntlich niemandem recht machen kann. Wie schon bei "Lee Gustavo", lautet das Motto bei "Maus im Kopf": Einer gegen alle. Doch dieses Mal folgen wir den Fussstapfen eines hundertprozentigen Loosers. Finn Linder, 43, lebt in einem kleinen Haus an der Grenze von Basel zu Allschwil. Er hat schon mindestens neunhundertdreiundfünfzig Kreuzworträtsel gelöst und verbringt die meiste Zeit am Computer. Am liebsten tut er addieren: "Zahlen sind sein Metier, sie sind verlässlich." Doch selbst sie geraten durcheinander: Als seine Bilanzen, die er seit 19 Jahren im selben Treuhandbüro ausführt, nicht mehr stimmen, wird er entlassen.
Finn kann einem richtig leid tun: Zuerst hat ihn seine Mutter nicht gewollt, dann ist ihm die Frau davon gelaufen und jetzt hat er seine Stelle verloren. Doch nicht genug damit: Er ist auch noch hässlich und fett. Als Teenager verspürte er vor seinen Fressattacken wenigstens noch unbändige Lust – auf Kartoffelchips, Heringe, Zitronentörtchen usw. Doch an seinem achtzehnten Geburtstag bleiben die Unmengen plötzlich in seinem Hals stecken. Sein Gaumenzäpfchen reagiert nicht mehr auf die penetranten Kitzeleien seines Fingers. Er hat keine Macht mehr über seinen Magen, kann den "drückenden Ballast" nicht mehr loswerden. Ausgekotzt.
Rache ist Rumcake
Frage: Was macht ein ordnungsliebender "Chnorzi", ein elender Verlierer, ein armes Würstchen, das ständig und von allen auf den Deckel kriegt? Antwort: ein Ventil für die aufgestaute Wut suchen. Finn zermanscht und verschmiert den Rumcake, den er für eine Arbeitskollegin gebacken hat. Er flüchtet in die Welt des Cyberspace und findet im Chatroom das verheissungsvolle Mittel zum endgültigen Vernichtungssschlag gegen alles Böse beziehungsweise alle Bösewichte auf dieser Welt. Doch auch mit diesem Plan scheitert er.
Was treibt Sandra Hughes dazu an, sich auf eine derart jämmerliche Figur einzulassen? Der äusserliche Anlass seien eine Reihe von Amokläufen in der Schweiz gewesen, erzählt die Autorin: Wie muss sich die Welt für jemanden ver-rücken, dass er ausflippt? "Finn Linder ist ein einsamer Mann, der alles Böse und Brutale, das ihm begegnet, in sich hinein frisst." Ein singuläres dramatisches Ereignis in seinem Leben, einen biografischen Grund gebe es dafür nicht, erklärt sie: "Finn Linder leidet am Alltag."
"Ich versuchte, in seine Haut zu schlüpfen", beschreibt sie ihre Erzählhaltung in der dritten Person, die zugleich aus der Figur heraus kommt und neben ihr her geht. Szene um Szene folgen wir Finn Linder durch die Strassen der Stadt: Sinnbild für den zunehmenden Wahnsinn, der sich in seinen Hirnwindungen abspielt. Sandra Hughes lässt ihrem Antihelden null Chance, irgendwie vom Fleck zu kommen. Bis zum offenen Schluss nicht. Klar bleibt nur eines: Linder muss die dem Roman seinen Titel gebende "Maus im Kopf" beziehungsweise hinter der Badzimmerwand, die ihn mit ihrem schrillen Kichern und "chtchtcht" zur Verzweiflung treibt, auslöschen. Oder er geht selber drauf.
Lieber bös als brav
"Der Mensch kann ja so bösartig sein", sagt Sandra Hughes und nimmt einen Schluck heisse Schoggi. Es sei selbstverständlich spannender, menschliche Abgründe auszuleuchten als tüchtige Erdenbürger zu beschreiben. Finn sei zwar ein armes Schwein, aber es sei handkehrum begreiflich, dass man auf ihm rumtrample, so ungeschickt wie der sich benehme.
Das Buch ist geboren, Sandra Hughes hat ihren Loser wieder abgeschüttelt. "Es war viel Leiden mit Finn Linder", so die Autorin über ihren Protagonisten. Für ihr nächstes Buch suche sie eine "leichtere" Figur. Die kriminalistischen Erzählmomente, die ihren beiden bisherigen Büchern vorkommen, will sie vermehrt dramaturgisch nutzen.
9.30 Uhr. Wenn Sandra Hughes zügig Velo fährt, ist sie vor 10 Uhr daheim. Dann bleiben ihr an diesem Montagmorgen noch gute zwei Stunden fürs Schreiben. Bevor wieder "Max-Zeit" ist.
Sandra Hughes: "Maus im Kopf". Roman. Limmat Verlag, Zürich. 198 Seiten, 32 Franken.
22. Oktober 2009