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"Von der Fixiertheit wegkommen": Musikvermittlerin Wackernagel
"Musik trotz allem": Weil Behinderung kein Hindernis mehr ist
Die Musiklehrerin Babette Wackernagel eröffnet in Basel eine Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche
Von Peter Knechtli
Wenn es ums Musizieren ging, blieben Menschen mit einer Behinderung bisher meist ausgeschlossen. In Basel geht die Musiklehrerin Babette Wackernagel jetzt andere Wege: Sie eröffnet eine Musikschule für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung – weil Behinderung kein Hindernis mehr ist.
Dass Menschen mit Behinderungen geniale Sänger oder Musiker werden können, ist bekannt, spätestens seit der von der Glasknochen-Krankheit betroffene Pianist Michel Petrucciani sein Publikum schwindlig spielte. Doch unten im ganz gewöhnlichen Alltag sind Behinderte aber noch oft eine ausgeschlossene Gemeinschaft, wenn es um Musik geht.
Musik mit dem Schlauch
Dies ist auch der Grund, weshalb die 38-jährige Basler Berufsmusikerin Babette Wackernagel Batcho nach einer siebenjährigen Anstellung in einer regionalen Musikschule beschloss, einen neuen Weg zu gehen. Die diplomierte Trompetenlehrerin und Lehrerin für musikalische Grundkurse stellte fest, dass die Nachfrage nach musikalischer Aktivität aus Familien mit behinderten Angehörigen durchaus vorhanden ist. "Aber die Musikschulen sind – aus welchen Gründen auch immer – nicht bereit, die Nachfrage zu befriedigen."
Im Sommer 2006 war es so weit, dass die Musikern beschloss, auf eigenes Risiko einen Traum zu verwirklichen. Kommenden Freitagnachmittag ist es so weit: Ihre Musikschule "Musik trotz allem", eingemietet im Bildungszentrum "Eulerhof" der Basler Bildungsgruppe an der Eulerstrasse 55 feiert offizielle Eröffnung. In den vergangenen drei Jahren wurden Konzepte geschrieben, eine Administration aufgebaut, Arbeitsräume gesucht, Werbemittel geschaffen – unter anderem eine Visitenkarte mit Blindenschrift –, eine Website entwickelt und viele mehr. Nach einem Apéro wird um 14 Uhr eine Konzert ihrer fünfköpfigen Schülerband geboten. Danach folgt ein Workshop unter dem Titel "Mit dem Schlauch geht's auch" (unten auf Audio-File klicken).
Freude an der Musik vor Leistung
Babette Wackernagel nennt ihren vorläufigen Ein-Frau-Betrieb nicht umsonst "Musik trotz allem": Sie geht unkonventionelle Wege. Sie betrachtet Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung als einen ganz normalen Teil unserer Gesellschaft – "und deshalb braucht es gar keine Integration".
Die Ehefrau eines Maschineningenieurs aus Benin, die selbst jahrelang Noten gebüffelt hat, hebt sich von andern Angebot dadurch ab, "dass wir unkonventionelle methodische Ansätze verfolgen". So stehe "ganz klar die Freude an der Musik und nicht die Leistung im Vordergrund". Es sei "ganz wichtig das Elementare zu begreifen" und "von der Fixiertheit auf Noten wegzukommen". So hätten Studierende nach Absolvierung von Musikhochschulen bis vor zehn bis fünfzehn Jahren klassischerweise zwar fantastisch Noten ab Blatt lesen können, doch seien viele "nicht in der Lage gewesen, über einen einfachen Blues zu improvisieren".
Die Devise der unerschrockenen Musik-Vermittlerin: "Die Schüler müssen mir beweisen, dass sie nicht können." So habe lange Zeit der Glaube daran geherrscht – den sie nicht teile –, "dass Menschen mit einem Down-Syndrom nicht Trompete spiele können". Babette Wackernagel würde es zumindest auf den Versuch ankommen lassen.
Vernachlässigtes Kundensegment
So sollen in den musikalischen Grundkursen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 7 und 18 Jahren die musikalischen Prioritäten auf "hoch-tief", "laut-leise" oder beispielsweise "kurz-lang" gelegt werden. Der Grundkurs ist nicht bereit auf ein bestimmtes Instrument ausgerichtet. Vielmehr wird dabei unter anderem mit Hilfe einer vielfältigen Palette an Ton- und Schlaggeräten in fünf Lernbereichen eine Annäherung an das gesucht, was Musik oder eben Musik trotz allem ausmacht: Bewegen/Tanzen, Hören, Sehen und Sprechen, elementares Instrumentalspiel und einfache Notenlehre.
In einer ersten Versuchsphase will sich Babette Wackernagel ab Schuljahr-Beginn im August mit dem Grundkurs in Gruppen- und Einzelunterricht "stufenweise einfühlen". Anfang kommenden Jahres will sie die Weiterbildung für Musiklehrpersonal in Angriff nehmen, das sich für die Vermittlung von Wissen und Erfahrung an behinderte junge Menschen interessieren, sich dies bisher mangels eigener spezifischer Ausbildung aber nicht zutrauten. Denn "das Kundensegment der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung war in der Ausbildung bisher nicht existent".
Stiftung als Fernziel
Als Mutter zweier Kleinkinder im Alter von zwei und vier Jahren möchte sich Babette Wackernagel mittelfristig auf die Funktion als Schulleiterin beschränken ("sonst bis ich nur noch am Arbeitsplatz und nicht mehr zu Hause") und den Lehrauftrag nachfragegerecht mit Teilzeit-Lehrpersonal bestreiten. Sodann will "Musik trotz allem" als Kompetenzzentrum zu einer Drehscheibe für Musiklehrpersonen werden, die sich "an diesem spezifischen Themengebiet interessieren". Zu den Zielgruppen gehören aber auch Behinderten-Organisationen wie Pro Infirmis, Procap, die Schweizerische Paraplegiker-Vereinigung oder der Blindenbund.
Längerfristig schweift ihr Blick in finanziell gesicherte Zukunft. Schon heute akquiriert sie Vorstandsmitglieder für einen Förderverein, die den Kontakt zu Stiftungen suchen sollen. Später soll dieser Verein selbst in eine Stiftung umgewandelt werden, deren Ertrag die wirtschaftliche Basis von "Musik trotz allem" sicherstellen soll. Babette Wackernagel will dabei nicht kleckern: "Es werden ein paar Millionen Franken nötig sein."
"Musik trotz allem": Am Freitag, 16. April, findet vom 13 bis 18.30 Uhr die Eröffnungsfeier statt. Ort: Eulerstrasse 55, 4051 Basel. Telefon 061 271 72 72. Ab Mai im Web unter www.musik-trotz-allem.ch
13. April 2010