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"Ein rollenfreies echtes Leben": Autorin Katharina Tanner
Der Fluchtweg aus der Zirkusbühne
"Da geht sie": Zum Romandebüt der Basler Schriftstellerin und Buchhändlerin Katharina Tanner
Von Anna Wegelin
Mit ihrem Buch "Da geht sie" legt die in Basel lebende Schriftstellerin und Buchhändlerin Katharina Tanner ein fulminantes Romandebüt über die Identitätskrise der Schauspielerin und alleinerziehenden Mutter Lisette Winkelmann vor. Es scheidet die Geister der Kritik. Eine Begegnung mit der Autorin an ihrem Lieblingsort in der Stadt.
Es ist ein frühlingshafter Morgen im März. Katharina Tanners erster Roman "Da geht sie" ist vor wenigen Tagen im Limmat Verlag erschienen. Das Lob im SF-"Literaturclub" und die Attacke in der "Basler Zeitung" lassen ihn unberührt. Ich treffe die Autorin, die ich fast gleichzeitig in der Veranstaltungsgruppe des "Literarischen Forums Basel" und auf dem Kinderspielplatz kennen gelernt habe, im Badischen Bahnhof in Basel. Er bedeutete ihr das "Tor zur Welt", als sie noch Lehrtochter in Schaffhausen war. Wir reden über ihr Buch, das sie als einen Künstlerroman bezeichnet – und landen unweigerlich bei ihrer Biografie, die offensichtlich die weibliche Hauptfigur im Roman inspiriert hat.
Zuflucht in "geschützen Verhältnissen"
"Da geht sie", benannt nach einem Satz im bürgerlichen Trauerspiel "Maria Madgalene" (1843) von Friedrich Hebbel, spielt vor neun Jahren an einem "grossen Donnerstag" im Leben von Lisette Winkelmann. Lisette, 33 Jahre alt und von Beruf Schauspielerin, ist soeben mit ihrer siebenjährigen Tochter Linn von Berlin nach Kreuzlingen am Bodensee gezogen.
Am Abend hat sie einen Vorsprechtermin im benachbarten Stadttheater Konstanz, an dem sie die Sonne im Weihnachtsmärchen "Inuk, der Eskimojunge" spielt. Lisette hofft und bangt auf einen festen Vertrag für mindestens drei Jahre. Je näher der alles entscheidende Termin heranrückt, desto überspannter und unberechenbarer wird sie. Am Ende kommt es bei einem widrigen Schauspielcoach unweigerlich zum jämmerlichen Kontrapunkt. "Lisette wählt den Gang in die sichere Bürgerlichkeit", so Katharina Tanner. Ihre tragikomische Romanheldin nimmt in jenen vermeintlich geschützten Verhältnissen Zuflucht, aus denen auch sie selber, die Autorin, stammt.
Lesesucht und laute Literatur
Katharina Tanner, 1962 geboren und in Schaffhausen aufgewachsen, lebt als Schriftstellerin und Buchhändlerin in Basel. Sie hat Theaterstücke, Hörspiele und Prosa geschrieben und zusammen mit Gabrielle Alioth und Corina Lanfranchi den Band "Mitgeteilt. 24 Lebensgeschichten von Frauen aus Basel-Stadt und Baselland" (Limmat Verlag 2008) verfasst. Tanner, gelernte Buchhändlerin mit Zweitausbildung als Schauspielerin in Berlin, hat zwei Töchter im Alter von 20 und 6 Jahren. "Auch elterliche Fürsorge ist eine Berufsrealität", betont sie im Gespräch. Ihre ältere Tochter kam kurz vor Ende ihrer Schauspiel-Ausbildung zur Welt. Katharina Tanner war damals Mitte zwanzig und lebte mit dem Kind allein. Heute lebe sie bürgerlicher, erzählt die Autorin, und das sei auch gut so.
Zum Schreiben ist sie zwar über Umwege gekommen. Aber angelegt war es schon früh in ihrem Leben. "Als Kind war ich lesesüchtig", so die Autorin, deren Vater Richter und deren Mutter Journalistin bei den "Schaffhauser Nachrichten" waren. Sie habe alles verschlungen, was ihr in die Hände kam, ausser Fantasy-Geschichten. Als Teenager hätten sie die dokumentarischen Romane der siebziger Jahre namentlich von Walter Kauer und Walter Matthias Diggelmann "berührt". Eine besondere Vorliebe hegte sie für die DDR-Literatur (Reimann, Johnson, Wolf und Brasch). "Das sozialistische Deutschland verkörperte für mich die grösstmögliche Fremdheit im eigenen Sprachraum", meint sie.
In der Jugend AJZ-Aktivistin
"Ich war eine totale Schulversagerin", fährt sie fort. Sie brach die "Kanti", wie man das Gymnasium im Schaffhausischen bezeichnet, ab, machte dafür in der Anti-AKW-Bewegung mit, kellnerte und fuhr mit dem Sieben-Uhr-früh-Zug mit einem Sack Gipfeli ins AJZ nach Zürich. Katharina Tanner: "Ich war eine Achtziger-Jahre-Bewegte. Aber ich habe immer Mühe damit gehabt, mich einzugliedern."
Ihre andere Leidenschaft neben der unbändigen Leselust war das Theater, das die Autorin als die "laute Literatur" empfand, und der Autoren-Film, ihre "Schule des Sehens". Es muss für sie, die im familiären Umfeld eine schwere Depression miterlebte, ein Befreiungsschlag gewesen sein, im kitschigen Stadttheater Schaffhausen auf dem Fünf-Franken-Stehplatz die Gastspiele des Zürcher Schauspielhauses mitverfolgt zu haben. Rückblickend meint sie, der Schauspielberuf "in einer der letzten patriarchalen Bastionen" habe sich für sie letztlich als eine "Furzidee" entpuppt. Doch wenn sie sich etwas vorgenommen habe, ziehe sie es eben auf Biegen und Brechen durch. Vor 17 Jahren hat sie zum letzten Mal auf der Bühne gestanden. "Aber ich erinnere mich bis heute mit jeder Faser meines Körpers an dieses Gefühl."
Am Rande einer Depression
Diese kompromisslose, körperliche Leidenschaft fürs Theater gilt im besonderen Masse für ihre Romanfigur Lisette, welche die Autorin als ein "den Menschen zugewandtes Kind, am Rande einer Depression" beschreibt. Ihr "Kind", ihre fiktive "Freundin" nach jahrelanger Beschäftigung loszulassen, sei übrigens "grausam".
Vielleicht seien ihr dokumentarisches Schreiben und der Buchhandel ihre "Zirkusschule", um überhaupt wieder in einen neuen fiktiven Text eintauchen zu können, sowohl psychologisch als auch finanziell, sinniert sie. Tanner bezieht sich dabei auf die Rahmenhandlung in "Da geht sie", die Lisette neun Jahre später als dreifache, bald vierfache Mutter und Ehefrau eines Arztes in Bern zeigt, die neben ihrer Familie eine eigene Zirkusschule führt. Doch Lisette habe mit sich einen geheimen Pakt abgeschlossen, weist die Autorin auf eine Stelle in der Rahmenhandlung des Romans hin.
Der "Fluchtweg" der Romanfigur
"Niemand darf wissen, dass die Zirkusschule nur ein Experiment ist, das ich jederzeit abbrechen darf", sagt Lisette Winkelmann. Sie brauche den Fluchtweg, sich jederzeit mit einem "harten Schnitt" von ihrer momentanen Existenz trennen zu können, erklärt Katharina Tanner: "Viele müssen sich heute immer wieder selbst neu erfinden. Sonst wären sie verloren." Wer könne schon mit Gewissheit sagen, dass die "Gnade der bürgerlichen Gesellschaft" ewiglich währe.
Das Gespräch ist zu Ende. Katharina Tanner geht mit dem Fotografen zu jenen Lieblingsnischen im badischen Grenzbahnhof, in denen sie, gestrandet zwischen Fernzug aus dem Norden und Bummelzug in die Ostschweiz, manchmal stundenlang wartete. Zurück lässt sie jene Lisette, die jedes und alles als Zeichen für ihre momentane Situation deutet und ihr Leben zu einer einzigen Theatervorstellung hochstilisiert – in der panischen Hoffnung, irgendwann ein "rollenfrei echtes Leben" zu führen, in dem sich normierte Verhaltensmuster endlich vollends in Luft auflösen.
Katharina Tanner: "Da geht sie". Roman. Limmat Verlag, 140 Seiten. 28 Franken.
Veranstaltungshinweis: Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 22. bis 24. Mai.
2. April 2009