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"Hüftprothese kann Kosten sparen": Basler Orthopädie-Chefarzt Jakob
Senioren als die Sorgenkinder der medizinischen Versorgung
Kostenexplosion: Immer drängender stellt sich die Frage, welche Operationen bei Betagten durchgeführt werden sollen
Von Nathalie Zeindler
Für Aufruhr sorgte letztes Jahr das Postulat eines Luzerner Kantonsparlamentariers. Er verlangte, dass sein Kanton künstliche Hüftprothesen bei Höchstbetagten nicht mehr mitfinanzieren solle. Damit ist das Thema Ethik wieder in aller Munde – auch in Basel-Stadt.
"Implantierte Prothesen bei wesentlich älteren Menschen gilt als Maximalmedizin, die nicht der Allgemeinheit aufgebürdet werden darf. Der Staat kann nicht sämtliche Leistungen bis ans Lebensende bieten." Diese Meinung vertritt der Luzerner SVP-Kantonsrat und Hausarzt Beat Meister, doch mit dieser Meinung steht er in Ärztekreisen weitgehend alleine da.
Finanzierung fraglich
Tatsache ist, dass die Gesundheitskosten stetig steigen und die Schweiz ohne Verzicht auf gewisse Leistungen womöglich kaum mehr in der Lage sein wird, die ärztliche Versorgung langfristig zu finanzieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sämtliche Eingriffe verantwortbar sind, wenn rund 20 Prozent der Bevölkerung nicht mehr in der Lage ist, die teuren und stets steigenden Krankenkassenprämien zu bezahlen.
Marcel Jakob (53), Chefarzt Orthopädie und Traumatologie am Universitätsspital Basel, kann für den Vorstoss seines Berufskollegen nur wenig Verständnis aufbringen: "Zwar müssen die Kantone darüber diskutieren, welche Behandlungen und Operationen ökonomisch vertretbar sind, aber man darf nicht vergessen, dass sich nicht wenige Personen im hohen Alter noch bester Gesundheit erfreuen." Eine Hüftprothese beispielsweise könne "nicht nur deren Lebensqualität erhöhen, sondern auch Kosten sparen".
Jakob gibt auch zu bedenken, dass eine betagte Person "aufgrund der fehlenden Mobilität rund um die Uhr betreut werden müsste."
Pflegeheime teurer als Eingriff
Ein solcher Hüft-Eingriff inklusive Therapie koste 15'000 Franken, was einem dreimonatigen Aufenthalt in einem Pflegeheim entspräche. Eine chirurgische Intervention sei jedoch nicht angezeigt, wenn sich das Allgemeinbefinden des Betroffenen hinterher nicht verbessere.
Von einer Altersguillotine halten die Basler Mediziner grundsätzlich wenig und diese dürfte wohl auch beim Volk kaum akzeptiert werden, da eine Restriktion des Leistungsangebots eine zunehmende Zweiklassenmedizin mit sich brächte.
Würden Leistungen für Rentner zunehmend eingeschränkt, hätte dies zur Folge, dass nur jene zum Zuge kämen, die allfällige Eingriffe selbst bezahlen könnten, was nicht zuletzt auch den Privatversicherungen Auftrieb verliehe. Das heisst auch: Die Gesellschaft muss sich überlegen, wie sie mit den Schwächsten künftig umgehen möchte.
Die meisten wollen "leben wie zuvor"
Es geht in erster Linie darum, den Einzelfall zu betrachten, sind sich die Basler Ärzte einig. Diese Meinung vertritt auch Adriana Lambert, die stellvertretende ärztliche Leiterin Intensivmedizin im Basler St. Claraspital: "Der Wunsch des Patienten spielt eine zentrale Rolle und auch die Frage, ob die Intervention ihm hilft, wenn kein zusätzlicher Schaden zu erwarten ist." Fast immer heisse der Patientenauftrag: "Mein Ziel ist es, so wie zuvor leben zu können."
Häufig klappe das auch, doch mit zunehmender Gebrechlichkeit müsse auch mit Einschränkungen gerechnet werden, was vielen Betroffenen nicht bewusst sei. Eine offene Kommunikation gehöre deshalb zum obersten Gebot. Körperliche Abhängigkeit bringe hohe Kosten mit sich, umso wichtiger sei deshalb ein ausführliches Arzt-Patientengespräch mit der nötigen Empathie.
Allerdings befürchtet Adriana Lambert, dass eine Einschränkung des Machbaren unweigerlich auf uns zukommen dürfte, wenn Personal und Finanzen knapp werden, was angesichts der Alterspyramide ein durchaus reales Szenario sei.
Umdenken in der Ärzteschaft
Im Universitätsspital Basel wird seit einiger Zeit intensiv über ethische Massstäbe diskutiert. Marcel Jakob: "Wir möchten uns wieder vermehrt auf die Qualität sowie auf Sinn und Nutzen von sämtlichen Eingriffen konzentrieren." Innerhalb der Ärzteschaft habe "inzwischen ein Umdenken stattgefunden, indem nicht immer nur über den ökonomischen Aspekt gesprochen wird". Vielmehr soll der Patient wieder im Mittelpunkt stehen – "trotz des leistungsorientierten Fallpauschalen-Systems".
Das ethische Dilemma könnte die Mediziner in Zukunft tatsächlich vermehrt beschäftigen, wenn die Solidarität in Frage gestellt würde.
Der gebürtige Basler Markus Trutmann, Generalsekretär des Verbandes chirurgisch und invasiv tätiger Ärztinnen und Ärzte (FMCH) ergänzt: "Wenn Leistungs-Einschränkungen für Senioren eingeführt würden, wäre dies verfassungswidrig und mit dem Solidaritätsprinzip einer Sozialversicherung schlichtweg nicht vereinbar. Aus ärztlicher Sicht stellen solche Rationierungen eine Bedrohung dar, weil zahlreiche Eingriffe älteren Patienten ein besseres Leben und Selbstständigkeit ermöglichen."
Eigenständigkeit als primäres Ziel
Sein Verband engagiert sich im Bereich Ethik und unterstützt auch den neuen Ärzte-Eid, der voraussetzt, dass der Mediziner ethische Verhaltensregeln einhält, Eingriffe sorgfältig überdenkt und keinen Vertrag eingeht, der ihn zu Leistungsmengen- oder unterlassungen nötigt.
Eine medizinische Massnahme ist demnach ökonomisch und ethisch vertretbar, wenn sie zur Erhaltung der Autonomie des Patienten beiträgt, vor allem auch dann, wenn die Lebenserwartung nicht durch andere wesentliche Begleiterkrankungen kompromittiert ist.
Entscheid von Fall zu Fall
Trutmann mahnt: "Trotzdem muss man sich vor allgemeinen Aussagen hüten, denn eine Intervention ist nicht immer nur sinnvoll. Die Indikationsstellung muss sorgfältig von Fall zu Fall vorgenommen werden. Entscheidend ist, dass mit einem bestimmten Eingriff ein Nutzen für den Patienten mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann."
Fazit: Ethik ist längst kein Tabuthema mehr, zumal sich die Menschheit im Zeitalter des stetig längeren Lebens auch in anderen Bereichen mit solchen Entscheidungen auseinandersetzen muss. Dazu gehört unter anderem das viel diskutierte Rentenalter ebenso wie die zentrale Frage, wer die Finanzen bereitstellt, wenn dereinst immer mehr Menschen das 100. Altersjahr erreichen.
Dieser Beitrag wurde dank des OnlineReports-Recherchierfonds möglich.
15. Juni 2018
"Eine Frage des Respekts"
Den Menschen in der Schweiz geht es wohlstandsmässig so gut wie noch nie. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Alten. Die haben einiges geleistet, das sich sehen lassen würde, würde man sich damit beschäftigen. Auch haben sie den Nachkommen, die nun über sie entscheiden, die Windeln gewechselt und diese vielleicht sogar noch von Hand gewaschen :-)
Darum ist es auch eine Frage des Respekts, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Was finanzierbar ist, ist eine Frage der Prioritäten. Das gilt ebenso für das Thema der AHV.
Viktor Krummenacher, Bottmingen