Als Maturanden im Entschleunigungs-Modus
Fernunterricht an unserem Gymnasium heisst bis jetzt vor allem, dass seitens der Lehrpersonen täglich von einer "für uns alle ungewohnte Situation, die zugleich Herausforderung und Chance ist" gesprochen wird, während wir Maturandinnen und Maturanden eigentlich nur wissen wollen, was mit unseren Abschlussprüfungen geschieht.
Die Floskel-Mails von Schulleitung und Lehrkräften verstopfen zwar allmählich unsere Postfächer, doch ist auch klar, dass die Worthülsen wahr sind. Der Aufbau von "Home Schooling" beansprucht Zeit, und dass wir uns gerade "in Entschleunigung üben müssen", wie es ein Lehrer letzte Woche, vermutlich leicht ironisch, formulierte, ist erträglich.
"Home Schooling" heisst aber auch, dass wir als Digital Natives mit Lehrpersonen aus unserer Eltern-, teilweise fast Grosselterngeneration in Chats kommunizieren, die "Microsoft" eindeutig für junge Erwachsene gestaltet hat. Die Gefahr besteht, dass der Unterricht dadurch so cringy, also peinlich oder unangenehm, wird, dass sich niemand mehr auf den Schulstoff konzentriert.
"Emojis oder unaufgefordertes Fragen
wird mit Strafaufsätzen geahndet."
Abgesehen von Lehrpersonen, die minutenlange Monologe hielten, bis sie bemerkten, dass ihr Mikrofon stumm geschaltet war, ist das bisher noch nicht passiert. Die potentiell peinliche Situation wird von den meisten Lehrpersonen mit Humor entschärft: Wenn die Stunde vorbei ist, dient beispielsweise das animierte "gif" einer Schiffsglocke als Schulhaus-Gong.
Unsere Lehrpersonen scheinen in dieser kurzen Zeit ziemlich gut mit den verschiedenen Funktionen und Tools der Unterrichtsprogramme zurecht zu kommen. Herausforderungen gibt es aber auch für Digital Natives genug: Auf Videochat wird meist verzichtet; wenn 15 Leute zeitgleich in ihre Mikrofone reden, versteht keiner mehr ein Wort. Die Unterhaltungen per geschriebenem Chat hingegen sind unerträglich langsam – nicht nur, weil wir es uns alle gewohnt sind, auf Handytastaturen zu tippen.
Trotz ungefähr gleichen Kenntnissen, was die Programme betrifft, unterscheiden sich die Herangehensweisen der verschiedenen Lehrpersonen stark: Während in der einen Lektion Lehrperson und Schulklasse zur Auflockerung gemeinsam Mathematik-Wortspiele und -Witze sammeln, wird in der darauffolgenden Deutschstunde eine Anwesenheits-Kontrolle durchgeführt, die mich stark an meine Rekrutierung erinnert. Anschliessend verkündet die Lehrperson in martialischer Sprache, dass Emojis oder unaufgefordertes Fragen mit Strafaufsätzen geahndet wird.
In Krisensituationen werden bekanntlich sprachlich schwere Geschütze aufgefahren. Wer weiss, vielleicht hatte sich unsere Lehrperson von der drastischen Wortwahl in Emmanuel Macrons Rede vom Abend zuvor inspirieren lassen.
Zu ihrer Verteidigung: Ein wenig Disziplin ist bei dieser Unterrichtsform vielleicht auch nötig. Es vergingen keine zwei Minuten, bis wir entdeckten, dass sich über unser Unterrichtstool auch Chats exklusiv für Schülerinnen und Schüler erstellen lassen. Falls also das Internet im Kanton an seine Grenzen stösst – an den unterrichts-relevanten Konversationen liegt es bestimmt nicht.
Der Fernunterricht verändert vieles, einiges bleibt aber auch gleich: Ohne Schulweg kann bei einer Verspätung zwar nicht mehr behauptet werden, dass der Bus zu spät war oder die Fahrradkette rausgefallen ist. Im Fernunterricht heisst das jetzt: "Ich hatte technische Probleme."
23. März 2020