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"Manchmal voller Beklemmung": Umkämpfte Festung Ismail
Michail Schischkins Panorama der russischen Zustände
Es ist ein literarisches Werk, das den Leser zum Operateur und Akustiker macht
Von Aurel Schmidt
Wenn es in den Bäumen stürmt, wenn die Jalousien klappern, dann liegt gewiss ein Roman des russischen Schriftstellers Michail Schischkin auf dem Tisch. Ein Orkan fegt über das Land.
Orkan ist gut gesagt, aber eine Rezension ist kein PR-Text. Wenn Ihnen daran gelegen ist, müssen Sie sich etwas Besseres einfallen lassen. Ja, weiss ich. Aber wo anfangen?
Wer das Buch lesen will, wird nicht darum herumkommen, es wie eine Festung zu erobern. Es fängt schon damit an, dass von einem "Roman" die Rede ist. Aber kann man das Buch so bezeichnen? Romane sind Bücher mit mindestens zwei Personen, die etwas miteinander zu tun haben und etwas anstellen, das sich meistens auf einen Höhepunkt zu bewegt.
In der Literaturgeschichte waren die Amerikaner Meister darin: die sozialkritischen Realisten John Dos Passos, Upton Sinclair und andere, aber das ist lange her. Sie schrieben in einer historisch anderen Zeit. Heute geht das nicht mehr.
Die moderne Literatur mutiert den Leser in einen Operateur oder Ingenieur. Vielleicht könnte man bei Schischkins Werk von einem Baukasten sprechen, mit dem der Leser seine eigene Version der darin vorkommenden Geschichte erstellen und das Werk vollenden muss. Die Festung Ismail an der Donau, heute in der Ukraine, kommt bei Schischkin als Erwähnung nur am Rand vor, und erst noch in einer Nachbildung aus Papier-maché. Sie wurde 1790 im Russisch-Türkischen Krieg von General Suworow gestürmt und zerstört. Den Vornamen Suworows, Alexander Wassiljewitsch, trägt auch eine der Figuren in Schischkins Werk, was vielleicht ebenfalls nur ein beiläufiges Detail, aber bestimmt kein Zufall ist. Denn alles bei Schischkin ist Verkettung, Relation, Kontext.
Dass der gleiche Suworow in der Schweiz die Franzosen aus dem Land vertreiben wollte, woran sein Denkmal in der Schöllenenschlucht erinnert, hat offenbar keinen Platz im Buch gefunden. Auch wenn Schischkin mit der Schweiz, wo er heute lebt, bestens vertraut ist, wie sein kenntnisreiches Reisebuch einer Exkursion von Montreux nach Meiringen auf den Spuren von Tolstoi und Byron dokumentiert. Und auch, wenn das Buch vieles aufgreift, das Nächste und Entlegenste, das Allgemeine und das Besondere und zu einem grossen, ins Universelle weisenden Panoramabild montiert.
"Es ensteht ein breit angelegtes Geflecht von
Zeichen, Bedeutungen, Referenzen."
Einen Moment, bitte. Eine Rezension soll doch kein Rezept, keine Gebrauchsanweisung für ein literarisches Werk sein. Ja, richtig, aber vielleicht manchmal eben doch. In diesem Fall bestimmt. Weil es auf die "Handlung" dieses "Romans", die nacherzählt werden kann, am wenigsten ankommt, bietet sich eine andere Methode der Auseinandersetzung an. Kritik kann auch Vermittlung sein.
Die ersten hundert Seiten sind eine Herausforderung. Personen, Zeiten, Geschehnisse, Ideen wechseln in einer wahnwitzigen Konstruktion, mehr Konglomerat als Komposition. Ein Kritiker hatte einmal vorgeschlagen, das Buch mit einem Marker in der Hand zu lesen, um die verwickelten Stränge der Erzählung zu sortieren und die Figuren als erkennbare personale Einheiten zu isolieren. Das ist ratsam, aber einmal eingelesen, geht die Lektüre leichter voran.
Was die Schwierigkeit ausmacht, ist der Aufbau des Werks, darum das erwähnte Ingenieurswissen, das der Leser mitbringen muss. Zum besseren Verständnis bietet der Verlag im Netz ein Dossier mit Lesehilfen an; die Adresse ist hinten im Buch angegeben; auch die Fussnoten sind hilfreich. Lesen ist nicht immer nur Vergnügen, sondern manchmal auch Arbeit, sogar eine künstlerische, aber ein durchdachtes Werk hält immer eine reiche Erfahrung bereit.
Wenn alles mit allem zusammenhängt, wie es in diesem Buch der Fall ist, wenn alles miteinander verbunden ist und aufeinander eingeht, dann entsteht keine chronologische und schon gar keine einheitliche Handlung, sondern ein gross angelegtes Geflecht aus Zeichen, Bedeutungen, Referenzen beziehungsweise in Text eben, der sich durch neue Anknüpfungspunkte nach allen Seiten ausbreitet. Man muss also einen Weg durch das Werk pfaden und sich darin zurechtfinden. Wer etwa William Faulkners "Schall und Wahn" mit seiner wechselnden Optik kennt, wird schon einschlägige Kenntnisse mitbringen für den Umgang, und wer Schischkins später entstandenen, aber bereits in deutscher Übersetzung vorliegenden Romane "Venushaar" und "Briefsteller" gelesen hat, hat schon eine Vorstellung, wie der Autor vorgeht.
"Die Zeit wird durch die im Buch vorkommenden
Menschen erfahrbar gemacht."¨
Was Schischkin thematisiert, ist die russische Geschichte von der Russischen Revolution bis zum Tschetschenenkrieg mit den sechziger Jahren im Zentrum. Dargestellt und erfahrbar wird die Zeit so, wie sie von einer Handvoll Menschen wahrgenommen, meistens erlitten wird. Einige treten auf den 500 Seiten des Buchs in Abständen auf, andere einmal, dann verschwinden sie, bei einigen Figuren durchdringen sich ihre Geschichten. Dann geht eine fast nahtlos in eine andere über und führt wieder zurück in die erste. Die Verwicklungen auch nur annähernd wiedergeben zu wollen, würde zu weit führen. Schischkin selbst hat genügend Platz zur Verfügung, um breit auszuholen und als Schöpfer seines literarischen Universums das Dasein der von ihm geschaffenen Figuren einzusetzen und zu lenken.
Einige bleiben freilich stärker in Erinnerung als andere, so zum Beispiel die Frau, die, weil sie die ukrainische Partisanenarmee unterstützte, 1946 in ein russisches Straflager deportiert und deren Sohn Igor ihr weggenommen wird. Für ihr Schicksal hat sich Schischkin an einen authentischen Bericht gehalten. Ein anderes Beispiel ist der Arzt Motte, der zu den Samojeden in die Tundra entsandt wird, um medizinische Hilfe zu leisten. Sein Bericht ist erschütternd. Eine debile Frau aus der Ethnie bringt in einem Schuppen ein Kind zur Welt, aber vielleicht hat sie es irgendwo gestohlen. Gleich in der ersten Nacht wird Motte bestohlen, eine beiläufige Begebenheit, in einen unauffälligen Nebensatz gepackt, die doch wie ein greller Scheinwerfer die russischen Zustände anschaulich macht.
Dann kommt es noch besser. Motte schläft ein und erwacht in einer surrealistisch anmutenden Episode träumend im alten Ägypten, fragt nach dem Weg zum Nil und bittet in biblisch formulierter Sprache den Herrscher des Landes, sein Volk ziehen zu lassen. Weil Gott schweigt, denkt der Herrscher nicht daran. Aus. Übergang zur nächsten Episode.
Der historische Hintergrund ist das Konstrukt, um die Linien der Handlung zu verfolgen. Eine gute Zeit ist es nicht, eher das genaue Gegenteil. Denn düster ist die Welt, und das Leben, wie es einmal heisst, eine Demütigung, in Russland natürlich. Die Tochter eines Diplomaten wird entführt und wieder ausgesetzt, aber jetzt fehlen ihr zwei Finger. Horror oder Realismus? Die Menschen leben in Dreck, Trunksucht, Ignoranz, Finsternis, so werden sie dargestellt. Elend und Vandalismus sind verbreitet. Obdachlose haben sich in einem Hauseingang eingerichtet, alles kaputtgeschlagen und in die Ecken gesch...
Sind das etwa literarische Mittel, um Stimmung zu machen? Nichts dergleichen, es ist weder gut noch schlecht, es ist die Evolution, nichts weiter, so will es der Text. Nur so wird es möglich, sich vom Druck zu befreien, den das Buch erzeugt, und dem sich Schischkin, als er es schrieb, selbst ausgesetzt haben wird.
"Schischkin registriert, was geschieht.
Er ist Beobachter, aber noch mehr Betroffener."
Ob hier eine Abrechnung des Autors mit dem Land seiner Herkunft vorliegt, bleibe dahingestellt. Eher registriert Schischkin genau, was um ihn herum geschieht, mehr nicht. Aber es reicht. Schischkin ist Beobachter, aber noch mehr Betroffener. Das wird vielleicht am deutlichsten, wenn er selbst in seinem Buch in Erscheinung tritt, einmal als Journalist, der einen russischen Soldaten zu porträtieren hat, der in der DDR ein junges Mädchen vor dem Ertrinken gerettet hat.
Das zweite Mal hält Schischkin oder der Autor, der als halb reale, halb fiktive Figur mit ihm identisch ist, sich in Grimentz, Kanton Wallis, auf. Er hat sich in der Schweiz niedergelassen. Die Bedrückung lichtet sich etwas.
Eine lange Ansprache, in Gedanken an eine Frau mit dem Namen Francesca gerichtet, gibt wieder, wie er seinen Sohn aus erster Ehe, der bei einem Unfall überfahren wurde, verloren hat und wie er bei einer anderer Gelegenheit seinen Bruder Sascha im Lager Lgow besucht. Zuletzt kommt ein Sohn, den er mit Francesca hat, in Winterthur zur Welt, ein kleines Hoffnungszeichen in einer düsteren, gequälten Welt, von der man spürt, wie sehr sie Schischkin zusetzt.
In dem Buch finden sich Seiten, die hinreissend geschrieben sind, stets durchsetzt mit unscheinbaren Beschreibungen: "Wolken wie Stuck", auf eine solche Metapher muss man zuerst kommen; eine Figur heftet mit Sicherheitsnadeln die Vorhänge zusammen und charakterisiert so die Situation in unvergleichlicher Weise. In der Schwärze der Welt dringt das Ausserordentliche, das Unvernichtbare in den Alltag und akzentuiert ihn.
Michail Schischkins Werk ist ein sehr russisch gedachter Gang durch die Alpträume und Abgründe der Welt auf der Suche nach Licht, nach Erlösung, auch wenn es sie nicht gibt, nicht geben kann.
"Die Sprache selbst tritt
wie eine handelnde Person in Aktion."
Wenn aber, wie zu Beginn gesagt, die Handlung, die Ereignisse, die diversen kürzeren oder längeren Episoden gar nicht zählen, sondern vor allem die Stimmen, die hörbar werden, was bleibt dann noch übrig? Es ist die Sprache selbst, gesprochen oder geschrieben, die als Akteur eines unterlegten Geschehens auftritt. Der Leser muss auch zum Akustiker werden, der in der Lage ist, die verschiedenen Diskurse, Diktionen, Melodien, Töne, Tonlagen zu unterscheiden und zu verstehen. Jede einzelne Erzählstimme kommt aus der Tiefe des Geschehens, alle miteinander rauschen zu einer Polyphonie empor und geben den Sound des Zeitalters wider.
Anwälte unterhalten sich über die Fälle, die sie vertreten; Schischkins Buch liesse sich auch vom Thema Schuld und Gerechtigkeit her verstehen. In einer erstaunlichen Passage verteidigt ein Anwalt eine Kindsmörderin und mit ihr den Kindsmord aus ethnologischer und philosophischer Sicht, nicht etwa als ironischen Einschub, sondern weil das Gute und Hohe wie das Böse und Niedrige gleichermassen unentbehrlich sind für den "Weltenbau", wie auch hier das Buch wieder zu verstehen gibt. Literarische Anspielungen und Auszüge, die den Text durchsetzen, gehören zur Konstruktion des Werks. Etliche Auszüge aus alten Chroniken hat Schischkin darin aufgenommen, um einen Hauch von Überzeitlichkeit zu vermitteln.
Der Übersetzer Andreas Tretner hat sie mit bewunderungswürdigem Spürsinn mehr assimiliert als ins Deutsche übertragen. Auf Seite 490, der letzten des Buchs, ist das Leben schwer geworden, es hat sich in einen fürchterlicher Weltschauplatz verwandelt, in einen Kosmos, nachdenklich und manchmal voller Beklemmung.
"Die Eroberung von Ismail" von Michail Schischkin ist in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und kostet ca. Fr. 36.90.
Der Autor liest am Mittwoch, dem 7. Juni um 19 Uhr, im Literaturhaus Basel aus seinem Werk.
2. Juni 2017