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"Was ist mein Leben gewesen?": Basler Autorin Stössinger
Eine Reise ins Bodenlose
Die Basler Schriftstellerin Verena Stössinger über ihren Roman "Bäume fliehen nicht" auf den Spuren einer Kindheit zwischen den Weltkriegsfronten
Von Anna Wegelin
"Bäume fliehen nicht", der neue Roman der Basler Schriftstellerin Verena Stössinger, beschreibt die Reise eines 1934 in Ostpreussen geborenen Mannes und seiner Frau an die Orte seiner Kindheit zwischen den Fronten im Zweiten Weltkrieg. Ein berührendes Buch zu den grossen Fragen im Leben, durchwegs grandios erzählt.
Vier Fotografien: Das sind die einzigen Erinnerungsstücke, die dem 1934 geborenen Jürgen Ramm aus seiner Kindheit im damaligen Ostpreussen geblieben sind. Über fünfzig Jahre später reist er zusammen mit seiner Frau, Schweizerin und wohl Journalistin, an die Orte seiner frühen Lebensjahre zwischen Gdànsk und Kaliningrad zurück, die damals Danzig und Königsberg hiessen. Er verlor in dem hart umkämpften Gebiet zwischen den deutschen und den russischen Streitkräften praktisch seine ganze Familie und kam nach dem Krieg als Waisenkind nach Berlin.
"Bäume fliehen nicht", der wunderschön gestaltete Roman der bei Basel lebenden Schriftstellerin Verena Stössinger, ist eine stille Veröffentlichung im diesjährigen Bücherherbst. Und das Thema – die Erinnerungssuche eines Menschen, der im Zweiten Weltkrieg beide Eltern und die halbe Verwandtschaft verlor – ist bereits vielfach literarisch und dokumentarisch bearbeitet worden. Doch Stössingers intensive zehnjährige Recherchier- und Schreibarbeit und die geduldige Suche nach einem Verlag (Martin Wallimann aus Alpnach Dorf) haben sich gelohnt: "Bäume fliehen nicht" ist das berührendste Buch, das wir in den letzten Jahren gelesen haben, und ein sprachlicher Genuss von Anfang bis Ende.
OnlineReports sprach vor der Vernissage am 23. Oktober mit Verena Stössinger über ihr Buch: Weshalb es sich für manche Menschen aufdrängt, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, warum die Reise in die eigene Vergangenheit an die Substanz geht und was es auf sich hat, dies literarisch zu dokumentieren.
OnlineReports: Verena Stössinger, wie sind Sie auf das Thema Ihres neuen Romans gekommen?
Verena Stössinger: Es ist eine Geschichte, die mir sehr nahe ist und mich seit langem begleitet. Ich wollte sie erzählen. Es wird über die einzelne Geschichte hinaus ja sehr viel sichtbar, das nicht nur dieses eine Leben betrifft. Da kann man fragen: Wie geht man mit Vergangenheit um? Was macht Erinnerung mit dem, was man erlebt hat? Und wie verändert man sich selbst, wenn sich diese Erinnerung verändert? Zum anderen gibt es die kollektiven Erinnerungen. Eine ganze Generation hat den Zweiten Weltkrieg ähnlich erlebt. Viele waren auf der Flucht und haben als Kinder ihre Eltern verloren. Aber das einzelne Leben ist immer wieder anders. Man muss nur nahe genug herangehen und plötzlich bekommt es seine eigenen Farben und seinen eigenen Wert. Diese Aufmerksamkeit für ein einzelnes Leben ist mir ganz wichtig.
OnlineReports: Sie sagten vor dem Interview, Sie wollten nicht, dass der Text autobiografisch ausgelegt wird. Gleichzeitig betonen Sie, alle Fakten im Text würden stimmen und sagen ja, die Geschichte sei Ihnen sehr nahe. Weshalb diese Skepsis gegenüber einer autobiografischen Leseart? Man kennt Sie und Ihren Mann, der als Kind Jürgen Ramm hiess und von Hollmann bis Baumbauer Schauspieler am Theater Basel war.
Stössinger: Weil ich nicht will, dass der Fokus auf mich und meinen Lebenspartner privat kommt. Ich möchte, dass diese Geschichte freigestellt wird und von der privaten Nähe und Neugier befreit.
OnlineReports: Die Geschichte ist zwar aus der Perspektive des Mannes geschrieben. Aber "die Frau" – seine Lebenspartnerin heisst Bea – ist ihm während der ganzen Zeit ein wichtiges Gegenüber. Sie insistiert, hört zu, fragt nach.
Stössinger: Ja, und die beiden machen diese Reise zusammen, weil er es so will. Er hat seine Geschichte über fünfzig Jahre in sich versenkt gehabt; jetzt, wo er alt wird, möchte er an die Orte der Kindheit zurück, zunächst einmal geografisch. Doch er weiss auch, dass er dabei zurück in die Erinnerung gehen muss, in diese Kapsel hinein, mit der er sie umgeben hat. Und weil er so wenige Fakten aus seiner Kindheit weiss, braucht er ein Gegenüber, dem er erzählen kann; erzählen befreit. In inneren Monologen wäre er mir zu leicht ausgewichen. Es braucht zum einen Bea, die Frau, um ihn zum Sprechen zu bringen, und da ist auch Simon, der russische "Cheimwehturistenführer", der ihm zuhört und mit ihm durch die Gegend fährt.
OnlineReports: Trotzdem bleiben ihm bis zuletzt viele wichtige Fragen offen, vor allem, wer sein Vater war.
Stössinger: Ja, sie bleiben. Im Geschehen von damals, und im Erzählen darüber. Deshalb braucht der Roman Fremdtexte, zum Beispiel den Beginn vom Märchen vom Eisenhans, wo alle, die sich in den gefährlichen Wald wagen, im Dunkeln verschwinden, oder die traumartigen Sequenzen: Sie machen etwas von dem sichtbar, was der Mann nicht aussprechen kann.
OnlineReports: Manchmal gibt es ja auch Lichtblicke. Zum Beispiel, als Jürgen Ramm einen Spielkameraden aus der Nachbarschaft, Ulrich Lörzer, ausfindig macht und besucht.
Stössinger: Da ist zwar eine ganz grosse Freude, eine grosse Nähe auch – sie berühren sich bei der Begrüssung, was Männer in diesem Alter sonst nicht so leicht tun. Auf der anderen Seite lebt Ulrich Lörzer in einer ganz anderen Welt. Was er alles erinnert und wie er darüber berichtet, bleibt Jürgen völlig fremd. Aber man muss Fragen zum eigenen Leben auch stehen lassen können. Die Entdeckung über seinen Vater stellt ja nicht nur Jürgen Ramms Erinnerung auf den Kopf, sondern auch sein Selbstbild. Dies ist eine Wende, die nicht erwartbar war und seiner Suche auch etwas Bitteres oder Bodenloses verleiht.
OnlineReports: Was geht in ihm vor, als er schriftlich bestätigt bekommt, dass sein Vater bei der Wehrmacht war?
Stössinger: Zunächst einmal weiss er endlich mit Sicherheit, dass es ihn überhaupt gegeben hat; er hat einen Lebensbeweis in der Hand. Aber es wird ja bis zuletzt nicht klar, was sein Vater beruflich genau gemacht hat und weshalb er nur an den Wochenenden mit seiner Familie zusammenlebte. Und: War er in der nationalsozialistischen Partei? Wo stand er politisch? Und warum konnte die Mutter, eine Halbjüdin, nach dem Tod des Vaters mit ihren drei Buben in der Siedlung für Angestellte des Flughafens wohnen bleiben? Je mehr klar wird, desto mehr ist wieder neu unklar. Das alles schüttelt den Mann dermassen durch, dass er sich wieder schützen muss. Aber der Traum gegen Romanende, wo er seinen Vater hängen sieht, ist eine Möglichkeit zu zeigen, was in ihm wohl vorgeht.
OnlineReports: Die Geschichte endet versöhnlich. Jürgen Ramm plant, das "Haus am Wald" seiner Kindheit nochmals aufzusuchen.
Stössinger: Ja, er schliesst Frieden. Frieden mit sich und dem, was jetzt am Ort seiner Kindheit ist. Er nimmt die Jetztzeit wahr, will ihr begegnen und auf dem Grab seiner Mutter einen Baum pflanzen. Bäume sind ihm wichtig. Er erinnert sich, wo damals welche Bäume gestanden haben und welche Vögel es darin gab. Bäume sind aber auch ein Bild: Sie verkörpern das, was bleibt. Sie leben länger als die Menschen.
OnlineReports: Bäume, Pflanzen, aber auch Glumse, eine Art Quark, Mohnstreuselkuchen oder in Essig eingelegte Dillgurken – die Reise ins ehemalige Ostpreussen führt auch durch ein Meer von Farben, Düften und Sinneseindrücke. Wie in einer impressionistischen Malerei.
Stössinger: Ja. Die sinnlichen Erinnerungen sind ihm geblieben als ein Raster, mit dem er umgehen kann. Dagegen steht das Hirn, das sich mit dem Erinnern abmüht.
OnlineReports: Der Körper behauptet sich gegen den Kopf, heisst es mehrfach im Roman. Das Sinnliche steht gegen das Rationale. Und je älter wir werden, desto wichtiger werden wohl die Erinnerungen. Aber ist es nicht manchmal besser, nach vorne zu schauen und ruhen zu lassen, was war? Es kann ja sehr schmerzlich sein, in der Familiengeschichte zu graben.
Stössinger: Es stimmt schon, dieser Prozess geht an die Substanz. Und es ist wohl auch so, dass diese Frage dringlicher wird mit zunehmendem Alter. Das Bedürfnis zurückzuschauen wird grösser. Aber auch das Bedürfnis nach Klarheit: Wer bin ich und was ist mein Leben gewesen?
OnlineReports: Nochmals, ist es nicht legitim, die Dinge ruhen zu lassen?
Stössinger: Doch, natürlich, das ist es sicher. Aber wenn es in einem drin zu rumoren beginnt, ist es wohl Zeit für eine Reise in die Vergangenheit.
Verena Stössinger: "Bäume fliehen nicht". Roman. Verlag Martin Wallimann, Alpnach Dorf. 196 Seiten. 29 Franken. ISBN 978-3-905969-14-6
21. Oktober 2012