© Foto by Pro Litteris, Zürch
"Fahren, fahren, fahren": Balla-Werk "Velocità + luci", 1913
Wo immer: Das Auto beherrscht unseren Alltag und unser Denken
Wir können uns nicht davon distanzieren – das Museum Tinguely greift ein dominierendes Thema auf
Von Aurel Schmidt
Am Beispiel von Kunstwerken vom Futurismus bis zum Neuen Realismus und der Pop Art setzt sich das Museum Tinguely mit dem Gefährt auseinander, auf das niemand von uns weder verzichten kann noch will.
Das Auto ist ein Fahrzeug. Das ist wahr, aber nur im praktischen Ausnahmefall, und daher eine Platitüde. In Wirklichkeit übersteigt es alles, was darüber gesagt werden kann. Es ist eine Lebensanschauung, ein Lebensstil, der alle Bereiche des täglichen Lebens und des symbolischen Kanons umfasst. Stellen Sie sich einmal eine Welt ohne Auto vor – ohne Mond wäre einfacher.
Wenn man sich erinnert, dass es in der Schweiz einmal eine Auto-Partei gab, die sich heute Freiheits-Partei nennt, dann ist das bezeichnend und erklärt alles. Der Geschmack von automobiler Freiheit und Abenteuer auf der Strasse bestimmt das Denken. Was sage ich? Manchmal sieht es aus, als würde es das Denken ersetzen ("Fahren, fahren, fahren"). Nur reicht die Freiheit nicht weiter als die Dimension der Windschutzscheibe. Was ist das Auto noch? Ach ja, ein Statussymbol – fast hätte ich es vergessen. Ob jemand mit dem "Käfer" oder dem "Jaguar" vorfährt, macht einen Unterschied .
Das Auto ist auch, aber nicht im selben Ausmass, ein Objekt von Design, Technik, Ökonomie. Die zehn grössten weltweit operierenden Wirtschaftsunternehmen haben mit Automobil und Erdöl zu tun, den Strassenbau nicht eingerechnet.
Der Autosalon als Heilige Messe
Wolfsburg und Stuttgart sind Automobil-Metropolen, die zum deutschen Wirtschaftswunder beigetragen haben. Wenn die Automobil-Industrie in Detroit hustet, zieht sich Obama warm an und eilt ans Mikrofon, um die Bevölkerung zu beruhigen. Hollywood ist mit seinem Product Placement die grösste Werbeagentur des Autos. Der US-Film hat das Auto nicht nobilitiert, sondern vor allem sakralisiert. Man reise an den Autosalon in Genf, wo es in einer Heiligen Messe hochachtungsvoll verehrt wird. Es passt dazu, dass die Toten auf der Strasse als Verkehrsopfer bezeichnet werden. Es ist ein Tribut, der widerspruchslos entrichtet wird.
Automobil-Museen setzen die Auto-Messen mit anderen Mitteln fort. Es sind eher Show Rooms, die den Ruhm der Unternehmen und der Automarken verbreiten. Und wer sich in der Geschichte des Autos auskennt, könnte unzählige Karrieren beschreiben, die mit dem Auto verbunden sind, zum Beispiel von Louis Chevrolet aus La Chaux-de-Fonds in den USA.
Auch die Kultur greift auf das Auto zurück. Die Futuristen sahen in der Geschwindigkeit eine "neue Schönheit", ausgehend von ihrem Wortführer Filippo Tommaso Marinetti, der im "Ersten Manifest" der Gruppe von 1909 meinte, ein aufheulendes Rennauto sei schöner als die Nike von Samothrake. Die bildliche Darstellung von Geschwindigkeit und Bewegungsabläufen wurde zum grossen künstlerischen Thema der Epoche, siehe Giacomo Ballas Werke zum Thema "velocità". Technik und Dynamik gegen Kultur, Bibliotheken, Museen. Il faut brûler le Louvre. Die Garage als Substitut des Museums? "Wollt Ihr verfaulen?", fragte Marinetti. Der futuristische Exzess ist am Auto immer ein wenig haften geblieben.
Der Automobilist als "Prothesengott"
Dagegen fiel Kaiser Wilhelm II, selbst Fahrer eines Mercedes-Simplex 17/22 PS, der trotzdem dem Auto keine Zukunft prophezeien und lieber an das Pferd glauben wollte, etwas aus dem Rahmen. Es war das falsche Pferd, auf das er gesetzt hatte. Pferdestärken wären besser gewesen. Die Entwicklung verlief anders, als er dachte. Heute kann man sagen: Die Welt ist Auto. Das "Gestell", wie der Begriff des Philosophen Martin Heidegger lautete, verhilft dem Menschen zu einer Art Erweiterung seiner Fähigkeiten im Sinne Marshall MacLuhans, macht ihn dadurch gleichzeitig aber auch zu einem "Prothesengott" im Sinne Sigmund Freuds.
Auch das Museum Tinguely hat in seiner neuen Ausstellung "Fetisch Auto" dem Auto einen Tempel errichtet. Fetisch wird hier als Glücksobjekt verstanden – die Ausstellungsmacher haben sich an Richard Kraft-Ebbings "Psychopathia Sexualis" gehalten, wo Objekte oder Eigenschaften von ihnen "lebhafte Gefühle" und "eine Art Zauber" hervorrufen. Was den Untertitel der Ausstellung "Ich fahre, also bin ich" betrifft, ist der Cartesianismus des motorisierten Zeitalters nicht ohne Ironie. Nur wer fährt, kann sich einer gewissen Individualität versichern.
Heimliche Begierden
Richtige Autos kommen in der Ausstellung nur ausnahmsweise vor, zum Beispiel das auseinander geteilte, in den Raum greifende Fahrzeug von Damian Ortega im Brennpunkt der Ausstellung. Von dort aus geht es in allen Richtungen zu den thematisch gruppierten Bereichen in verschiedenen axial angeordneten und aufeinander bezogenen Räumen.
Kunstwerke (oder Objekte, Fotos, Filme) erzählen Autogeschichten. Speed bei den Futuristen, das reine, auf sich selbst fokussierte Objekt bei den Neuen Realisten (Arman, "Articulation Renault no 105") und dem Euro Pop, von wo aus eine nahe liegende Brücke zum Auto als "Emotionsmaschine" (Thomas Pittino im Katalog) und zum erotischen Symbol geschlagen werden kann oder muss.
Denn die sexuelle Konnotation kann niemand übersehen. (Es ist eine alte Geschichte, wenn man die Kutsche als Vorläufer des Autos annimmt und an den Skandal in Gustave Flauberts 1857 skandalträchtigen Roman "Madame Bovary" denkt.) Die Karosserie ist mehr als ein Karren und nimmt die Stelle des begehrten Körpers ein. Armans Assemblage von Autoteilen; Sylvie Fleurys Automotoren, isoliert und auf Podeste gestellt; die glatten, glänzenden, spiegelnden, verführerischen Oberflächen von Autoteilen bei Peter Stämpfli ("Firebird"), Dan Eddy ("Private Parking IV") oder Jan Dibbetts ("Color Studies I-X") – sie lösen heimliche Begierden aus, worin auch ihre dezidierte Funktion besteht.
Verschleiss, Unfall, Tod
Die Pop Art andererseits (John Chamberlains "Strait of Night", Andy Warhols "Optical Car Crash") führt in eine andere Richtung: in die Waren- und Konsumwelt und zum Auto als Warenfetisch. Daneben ist das Auto auch ein Gebrauchsgegenstand mit einer desaströsen Seite: Verschleiss ("Yard", eine Anhäufung ausgedienter Pneus, von Allan Kaprow); Unfall; Tod. Bezeichnenderweise endet das Auto, dessen erstes Exemplar Carl Benz vor 125 Jahren entwarf, am Ende seiner Fahr- und Laufzeit auf dem Autofriedhof. Ruhe sanft, geliebtes Gefährt unserer Träume.
160 Werke von 80 Künstlern umfasst die Ausstellung, zahlreiche Themen werden aufgeworfen und abgehandelt, sehr viele, vom "american way of life" über den Geschwindigkeitsrausch zum heimlichen Rückzugsort. Manchmal stellen sich Überbordungserscheinungen ein. Eine kleine Begleitausstellung im Sous-Sol ist Jean Tinguely und seiner Beziehung zum Auto vorbehalten, womit die Verbindung zum geistigen Hausherrn hergestellt ist. Und für ein Autokino wurden 29 Autos in den Park neben dem Museum gestellt, die für 40 bis 66 Franken gemietet werden können. Die Filme werden von Dienstag bis Freitag nach Einbruch der Dunkelheit gezeigt. Auto pur. Auto total.
Museum Tinguely, Basel: "Fetisch Auto. Ich fahre, also bin ich." Vernissage Dienstag, 7. Juni, um 18.30 Uhr, mit Performance um etwa 22 Uhr. Der Katalog setzt die sichtbare Ausstellung essayistisch fort. Fr. 68.--
6. Juni 2011