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"Auf der Suche nach den Vorzeichen": Autor Urs Jaeggi

Erzählen als Kunst des Streunens

Buch: In "Durcheinandergesellschaft" stellt der Soziologe, Schriftsteller und Künstler Urs Jaeggi mehr Fragen als er Antworten gibt


Von Aurel Schmidt


In einem der Beiträge mit dem Titel "Streunen" schreibt Urs Jaeggi in seinem neuen Buch "Durcheinandergesellschaft", wie er zu früher Stunde durch Mexico Ciudad zieht. Er macht sich Gedanken über die überbordende Stadt und stellt grundsätzliche Überlegungen über Architektur und Urbanistik an. Eine Unruhe treibt ihn an. Ist die Stadt eine platonische Höhle oder eher eine Hölle? fragt er sich. Und wie wird er aus dem Chaos wieder herauskommen? Walter Benjamin und Fernando Pessoa laufen über den Weg. Die Moderne, das Verschwinden des Körpers, die Möglichkeiten der Eingriffe und Manipulationen aller organischen und unorganischen Lebenswelten kommen zur Sprache. Es ist fast ein Film, der Bild für Bild abläuft.

Streunen ist eine Art, ziellos und zufällig durch eine Gegend zu streifen, sich gleichsam gehen zu lassen, ohne Zwang, irgendwo anzukommen. Streunen ist mit dem Wort Zerstreuung verwandt. Es kommt nicht darauf an, wohin der Weg führt, sondern wichtig ist die Bewegung des Unterwegsseins und die Ausbreitung in jede Richtung.

Was Jaeggi auf seinem Gang durch die Stadt aufzählt, entspricht im genauen Massstab der Art, wie er erzählt. Er stellt einen Gedanken in den Raum und beobachtet, was geschieht. Eine Absicht ist damit nicht verbunden, er will nur verfolgen, was sich mit dem Satz anstellen lässt. Ein zweiter folgt, ein dritter. Die Suite von Sätzen nimmt einen gewundenen Lauf, mit Abweichungen, Ausuferungen, überraschenden Wendungen, neuen Perspektiven. Daraus ergibt sich ein Ablauf, der mit der Tätigkeit des Streunens identisch ist. Jeder Satz ist ein Grund zum Weiterlesen, weil man nur zu gern wissen möchte, was noch kommt und am Ende eintrifft. Aber das stellt sich auch wieder nur als Satz heraus, der zu einem nächsten weiterführt.

 

"Es ist ein additives Schreiben,
ein Schreiben, das sich ausbreitet."


Jaeggi weigert sich konsequent, Behauptungen aufzustellen. Zu beweisen gibt es nichts. Er ist offen für das Neue, Kommende, dessen Vorzeichen er sucht und untersucht. Das heisst nicht, dass er nicht genau wüsste, worauf er hinaus will. Er schiebt seine Aussagen vor sich her und entwickelt sie weiter. Es ist ein "einkreisendes, verästelndes Denken" (Jaeggi) und ein ebensolches Schreiben, das man auch additiv nennen könnte, ein Schreiben, das sich ausbreitet. So nehmen die Gedanken langsam Form an, ohne dass es nötig gewesen wäre, mit dem Finger darauf hinzuweisen. Im offenen, tastenden, experimentierenden Stil liegt die Attraktion des Buchs.

Urs Jaeggi, gebürtiger Solothurner, war als Hochschullehrer in Bern, Bochum und Berlin mit seinen Gesellschaftsanalysen und zum Beispiel seiner Untersuchung über die Art, wie die Presse über den Vietnamkrieg berichtete, einer der Wegbereiter des Mai 68. Sein Einfluss sollte nicht unterschätzt werden (unter anderem war er Doktorvater von Rudi Dutschke). Heute blickt er mit einer gewissen Irritation auf die Zeit von damals und seine eigene Beteiligung zurück.

Es ist Zeit, Fragen zu stellen. Das gehört für jeden Zeitgenossen zum Pflichtprogramm. Die Antwort kann so oder anders ausfallen, aber das Fragen selbst ist und bleibt ein Motor und eine Methode. Wie war es damals? Wie konnte es geschehen? Was hatte es zu bedeuten? Und heute? Machen wir es besser? Wie reden wir über unsere Zeit zwischen Konsens und Konflikt? Sind wir sensibler geworden? Eine fast sokratische Einstellung. "Lieber scheitern als keine Fragen stellen", steht an einer Stelle.

"Jaeggi versucht, das Wissenschaftliche mit dem
Persönlichen und Literarischen zu verbinden."


Die einzelnen Beiträge des Buchs weisen in Bezug auf Thematik und Anspruch grosse Unterschiede auf. Neben Erinnerungen an seine Zeit als Hochschullehrer schreibt Jaeggi als Soziologe und Wissenschafter über das Prekariat und den Sinn eines Grundlohns, setzt sich mit Ulrich Becks Risikogesellschaft und Niklas Luhmanns Systemtheorie auseinander und versucht im Zusammenhang damit immer wieder, das Wissenschaftliche mit dem Literarischen und Biografischen zu verbinden. Denn er geht davon aus, dass Wissenschaften und Theorien Konstruktionen sind und das Individuelle und Sinnliche dabei zu kurz kommt. Nur nicht sich mehr festlegen als nötig – oder nur dort, wo es unerlässlich ist. Der Mischung von Vernünftigem und Verrücktem in der globalisierten beziehungsweise Durcheinandergesellschaft steht er skeptisch gegenüber.

Das Fragen hört also dort auf, wo der Verrat beginnt. Das ist für Jaeggi ("Versuch über den Verrat", 1984) der Ausdruck für den Widerstand gegen das Arrangement mit dem Bestehenden beziehungsweise für den Entschluss, aus der Front des Einverständnisses auszubrechen.

Von der Wissenschaft und Soziologie hat Jaeggi sich vorsichtig zu lösen begonnen, als er vor vielen Jahren mitverfolgen musste, wie die theoretische Ausdifferenzierung wichtiger wurde als die gesellschaftliche Wirklichkeit. Heute lebt er als bildender Künstler und Schriftsteller in Berlin und Mexico Ciudad.

 

Urs Jaeggi: Durcheinandergesellschaft. Versuche, die Gegenwart zu verstehen. Verlag Huber, Frauenfeld. Fr. 39.80.
Am Montag, 5. Mai, um 18.15, stellt Urs Jaeggi in der Aula der Universität Basel sein Buch vor.

2. Mai 2008


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bz
vom 26. März 2024
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