Werbung

© Foto by Aurel Schmidt, OnlineReports.ch
"Skepsis als Mittel des Vorbehalts": Montaigne-Refugium "Hinterstübchen"

Flammendes Plädoyer gegen Überzeugungen und abschliessendes Denken

Buch: Eine Einführung in das Werk und Denken des französischen Philosophen Michel de Montaigne


Von Aurel Schmidt


Michel de Montaigne lebte von 1533 bis 1592. Seine "Essays" gehören zu den grossen Werken der Weltliteratur und der Philosophie. Dieses Urteil allein rechtfertigt aber noch nicht, sich heute mit ihm auseinanderzusetzen. Welche Gründe könnten ausserdem dafür sprechen?

Die Ungeheuerlichkeiten der Religionskriege haben einen tiefgreifenden Einfluss auf Montaignes Denken ausgeübt. Als praktizierender Katholik ergriff er Partei für die verfolgten protestantischen Hugenotten in Frankreich. Es gibt viele Religionen, alle bestehen nebeneinander, stellte er fest: "Christen sind wir im gleichen Sinn, wie wir Périgorden oder Deutsche sind." Für die katholische Kirche war dieses Credo ein Graus. Seine Werke wurden nach seinem Tod auf den päpstlichen Index gesetzt.

Die zweite markante Erfahrung in Montaignes Leben bildete die Entdeckung Amerikas, im Fall Frankreichs die vorübergehende Kolonisierung Brasiliens, das damals das "antarktische Frankreich" genannt wurde. Die Kunde von fremden Sitten ferner Völker, konkret der Menschenfresserei, scheint den Philosophen nicht besonders erschüttert zu haben. Mit Barbarei würde nur das bezeichnet, was wir nicht kennen, meinte er: "Die Barbaren setzen uns nicht stärker in Verwunderung, als wir sie." Auch das musste damals als Ungeheuerlichkeit gelten.

Diese zwei Ereignisse haben bei Montaigne keinen Kulturrelativismus ausgelöst, vielmehr haben sie zu einer tiefen Skepsis geführt, die sich auch an die antike Tradition der skeptischen Philosophie anlehnte. Was Montaigne entschieden zurückwies, war jede Form von Gewissheit, jedes abschliessende Urteil. Bei den meisten Fragen, die uns beschäftigen würden, fand er das Für und Wider genau gleich falsch. "Ich sehe von nichts das Ganze", sagte Montaigne. Wir wissen zu wenig, um uns eine fundierte eigene Meinung zu bilden, daher ist jede für Rechthaberei und Arroganz anfällig und jeder zu misstrauen.

 

"Was Montaigne entschieden zurückwies,
war jede Form von Gewissheit."


Ich denke, dass das auch heute noch eine gute Einstellung ist – in einer Zeit, da Behauptungen, Überzeugungen, Glaubenssätze und Dienst- sowie Propagandasprachen vorherrschen und das fundamentalistische Denken sich wie ein Virus ausbreitet.
 
Es gibt von Montaignes Essays zwei Ausgaben, die hier erwähnt werden sollen: Eine praktische Auswahl von Herbert Lüthy (Manesse) sowie die integrale Übersetzung von Hans Stilett, die 1998 als kompakte und nicht ganz billige Sonderausgabe in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Anderen Bibliothek" erschienen ist (Eichborn).

Stilett hat sich sein Leben lang mit dem Philosophen befasst. Das bringt jetzt der Band mit dem vom Montaigne-Leser Friedrich Nietzsche entlehnten Titel "Von der Lust, auf dieser Erde zu leben" zum Ausdruck. Stilett unternimmt darin neunzehn "Wanderungen durch Montaignes Welten".
 
Während Hugo Friedrich in seiner grossen Monografie Montaignes Denken und Zeit im Kontext seiner Geistesepoche erforscht und in einem grossartigen Panorama dargestellt hat, tritt in Stiletts Buch mehr der Übersetzer hervor, der sich in Werk und Denken des Philosophen mit einer Intimität bis in die einzelnen Sätze und Satzteile auskennt wie kein Anderer.

 

"Als versponnenen Grübler
darf man sich Montaigne nicht vorstellen."


Auch bei Stilett nimmt der Einfluss der Religionskriege auf Montaignes Denken einen zentralen Platz ein. Anders könne es auch nicht sein. Nicht ganz geglückt scheint mir das Kapitel über Montaignes "Hinterstübchen" ("arrière-boutique") ausgefallen zu sein. Gemeint ist damit in Montaignes eigener Sprache die Bibliothek im Turm seines Schlosses in Montaigne bei Bordeaux, in die sich Montaigne als Schlupfwinkel, Zufluchtsort und Refugium zum Nachdenken und Schreiben zurückzog.

Doch als versponnenen Grübler sollte man sich Montaigne trotzdem nicht vorstellen, auch wenn er sich in den "Essays" gern so gibt. Montaigne war ein politischer und mit diplomatischen Missionen beauftragter Vermittler im Dienst des potestantischen Heinrichs III von Navarra, der nach seiner Konversion zum Katholizismus als Heinrich IV von Frankreich in die Geschichte eingegangen ist ("Montaigne à cheval" von Jean Lacouture). Den Grübler Montaigne trifft man bei Stilett im aufschlussreichen Kapitel über den Einfluss Montaignes auf William Shakespeares Werk noch einmal an.
 
Zu Recht geht Stilett dagegen auf Montaignes Humor ein, der meistens übersehen wird. Ich hätte zwar lieber von Komik gesprochen. Montaigne muss man sich tatsächlich als komische Gestalt vorstellen, aber das könnte die Folge seiner stets hoch gehaltenen Ironie auch sich selbst gegenüber sein, die wie die Skepsis ein Mittel des Vorbehalts und der Distanzierung ist. Es genügt nachzulesen, was Montaigne über das Furzen oder über seine Geschlechtsorgane, die ihren Dienst verweigern, geschrieben hat. Wer da nicht schallend lachen muss, hat den Philosophen nicht verstanden.

Da das Buch ungefähr zur Hälfte aus Zitaten aus Montaignes Werk besteht, eignet es sich, zusammen mit den Kommentaren von Hans Stilett, ausgezeichnet als Einführung. So gelesen, wird man mit Erstaunen feststellen, dass Montaigne auch nach 400 Jahren nichts an Aktualität eingebüsst hat.

 

Hans Stilett: Von der Lust, auf dieser Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten. Eichborn. 271 Seiten. 44 Franken.

25. November 2008



 Ihre Meinung zu diesem Artikel
(Mails ohne kompletten Absender werden nicht bearbeitet)

Was Sie auch noch interessieren könnte

Mozarts "Requiem":
Vergänglichkeit wird zelebriert

21. April 2024

Opernpremiere am Theater Basel – Romeo Castellucci irritiert und verzückt.


Sinfonieorchester Basel:
Letzte Saison unter Ivor Bolton

19. April 2024

Die Zusammenarbeit mit der Allgemeinen Musikgesellschaft soll ausgebaut werden.


Tschudy-Villa steht jetzt
unter Denkmalschutz

12. März 2024

Der Eigentümer muss das teils abgerissene Gebäude in Sissach wieder aufbauen.


"Incoronazione di Poppea":
Auch musikalisch eine Grosstat

4. März 2024

Opernpremiere am Theater Basel – Christoph Marthaler enttäuscht nicht.


Reaktionen

"Carmen" als Stellvertreterin
der unterdrückten Frauen

4. Februar 2024

Das Theater Basel stülpt Bizets Oper eine politische Botschaft über.


Stiftungsgeld rettet
Verein Kosmos Space

23. Januar 2024

Krise beim Senioren-Projekt auf dem Bruderholz: Vorstand trat in corpore zurück.


20 Jahre Joker in
Sissach – mit demselben Wirt

18. Januar 2024

Didi Wanner hat mit seinem Nachtlokal viele andere Clubs in der Region überlebt.


Eltern und Kinder irritiert:
Warum ist das Karussell stumm?

1. Dezember 2023

Der langjährige Konflikt um den Münsterplatz nimmt absurde Züge an.


Reaktionen

152 Tage und weiterhin
voller Tatendrang

29. November 2023

Jan Amsler und Alessandra Paone geben Einblick in ihre erste Zeit bei OnlineReports.


Nach 43 Jahren ist
Schluss für Rapunzel 

13. November 2023

Die Buchhandlung im Liestaler Kulturhaus Palazzo schliesst Ende Januar.


Reaktionen

www.onlinereports.ch - Das unabhängige News-Portal der Nordwestschweiz

© Das Copyright sämtlicher auf dem Portal www.onlinereports.ch enthaltenen multimedialer Inhalte (Text, Bild, Audio, Video) liegt bei der OnlineReports GmbH sowie bei den Autorinnen und Autoren. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Veröffentlichungen jeder Art nur gegen Honorar und mit schriftlichem Einverständnis der Redaktion von OnlineReports.ch.

Die Redaktion bedingt hiermit jegliche Verantwortung und Haftung für Werbe-Banner oder andere Beiträge von Dritten oder einzelnen Autoren ab, die eigene Beiträge, wenn auch mit Zustimmung der Redaktion, auf der Plattform von OnlineReports publizieren. OnlineReports bemüht sich nach bestem Wissen und Gewissen darum, Urheber- und andere Rechte von Dritten durch ihre Publikationen nicht zu verletzen. Wer dennoch eine Verletzung derartiger Rechte auf OnlineReports feststellt, wird gebeten, die Redaktion umgehend zu informieren, damit die beanstandeten Inhalte unverzüglich entfernt werden können.

Auf dieser Website gibt es Links zu Websites Dritter. Sobald Sie diese anklicken, verlassen Sie unseren Einflussbereich. Für fremde Websites, zu welchen von dieser Website aus ein Link besteht, übernimmt OnlineReports keine inhaltliche oder rechtliche Verantwortung. Dasselbe gilt für Websites Dritter, die auf OnlineReports verlinken.

https://www.onlinereports.ch/fileadmin/templates/pics/gelesen.gif
"Bais steht vor Gewissens-Entscheid"

OnlineReports.ch
Im Titel des Newsletter-Textes vom 18. April 2024 über die SVP-Basis.
https://www.onlinereports.ch/fileadmin/templates/pics/gelesen.gif

Auch Nomen sind Glückssache.

RückSpiegel

 

Das Regionaljournal Basel veweist in einem Beitrag über die Probleme der Kitas im Baselbiet auf OnlineReports.

Der Klein Report nimmt die Recherche von OnlineReports über Roger Blums Buch über die Basellandschaftliche Zeitung auf.

Die BaZ bezieht sich in einem Artikel über die Zerwürfnisse in der Baselbieter SVP auf OnlineReports.

Die bz verweist in einem Bericht über die Kita-Krise im Baselbiet auf OnlineReports.

BaZ, Baseljetzt und Happy Radio nehmen die OnlineReports-News über das geplante Ministertreffen in Basel auf.

Der Sonntagsblick zitiert OnlineReports in einer grossen Recherche über die Baselbieter SVP-Politikerin Sarah Regez.

Baseljetzt verweist im Bericht über Basler Schiffsunfälle auf ein OnlineReports-Video.

Die Volksstimme greift die OnlineReports-Recherche über das Aus des Textildruck-Unternehmens Permatrend auf.

Im Bericht über "Unruhe am Regioport" bezieht sich Bajour auf die OnlineReports-Ursprungsrecherche aus dem Jahr 2018.

Die Basler Zeitung bezieht sich in einem Artikel über die Kantonsfinanzen im Baselbiet auf OnlineReports.

Die bz verweist in einem Bericht über die Neuausrichtung der Vorfasnachts-Veranstaltung Drummeli auf einen Artikel aus dem OnlineReports-Archiv.

Die Basler Zeitung zitiert in einem Leitartikel über die SVP aus OnlineReports.

Baseljetzt bezieht sich in einer Meldung über den Rücktritt von Ralph Lewin als SGI-Präsident auf OnlineReports.

Die Basler Zeitung nimmt die OnlineReports-Recherche über den blockierten Neubau der BVB-Tramstrecke über das Bruderholz auf.

Die Basler Zeitung und Infosperber übernehmen die OnlineReports-Meldung über den Tod von Linda Stibler.

Die bz zitiert den OnlineReports-Artikel über die Wiedereröffnung des Gefängnisses in Sissach.

Baseljetzt erzählt den OnlineReports-Artikel über die Räppli-Krise nach.

Das Regionaljournal Basel, Baseljetzt, BaZ und 20 Minuten vermelden mit Verweis auf OnlineReports den Baufehler bei der Tramhaltestelle Feldbergstrasse.
 

Weitere RückSpiegel

Werbung







In einem Satz


Die Baselbieter Regierung hat Kathrin Choffat und Roger Müller als neue Mitglieder des Bankrats der BLKB für die laufende Amtsperiode bis Mitte 2027 gewählt. 

Der Baselbieter Regierungsrat hat Raphael Giossi zum Nachfolger des langjährigen kantonalen Bieneninspektors Marcel Strub gewählt.

Cyril Bleisch übernimmt bei den Jungfreisinnigen Baselland das Präsidium von Lucio Sansano.

Die Basler Sozialdemokraten haben die SP queer Basel-Stadt gegründet und als neues Organ in den Statuten der Partei verankert.

Eiskunstläuferin Kimmy Repond und Wasserfahrer Adrian Rudin sind Basler Sportlerin beziehungsweise Basler Sportler des Jahres.

Jean-Luc Nordmann übergibt das Präsidium der Stiftung Tierpark Weihermätteli per 1. Januar 2024 an Martin Thommen.

Iris Graf steigt von der Projektleiterin und akademischen Mitarbeiterin der Baselbieter Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern zur Leiterin auf.  

Sonja Kuhn,
ehemalige Co-Leiterin der Abteilung Kultur Basel-Stadt, ist neu Präsidentin der SRG Region Basel.

Florian Nagar-Hak und Saskia Bolz übernehmen die Leitung des Gesundheitszentrums Laufen, das zum Kantonsspital Baselland gehört.

Mohamed Almusibli übernimmt ab März 2024 die Direktion der Kunsthalle Basel von Elena Filipovic.

Marilena Baiatu ist neue Kommunikationsbeauftragte der Staatsanwaltschaft im Kanton Baselland und ersetzt Thomas Lyssy, der Ende November pensioniert wird.

 

Mitte-Landrat Simon Oberbeck folgt am 1. August 2024 als Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung für Schifffahrtund Hafenwirtschaft auf André Auderset.

Die Junge SVP Basel-Stadt hat Demi Hablützel (25) einstimmig für zwei weitere Jahre als Präsidentin wiedergewählt.

Dominic Stöcklin wird neuer Leiter Marketing und Mitglied der Geschäftsleitung von Basel Tourismus.

 

Samir Stroh, aktuell Gemeindeverwalter in Brislach, übernimmt Anfang Mai 2024 die Leitung von Human Resources Basel-Stadt.

Das Sperber-Kollegium hat Sterneköchin Tanja Grandits zur "Ehrespalebärglemere 2023" ernannt.

Der mit 50'000 Franken dotierte Walder-Preis geht dieses Jahr an Konrad Knüsel, den Präsidenten des Vernetzungsprojekts Rodersdorf und des Naturschutzvereins Therwil.

Götz Arlt tritt am 1. Januar 2024 die Nachfolge von Christian Griss an und übernimmt die Stufenleitung der Sekundarschulen I im Bereich Volksschulen des Erziehungsdepartements Basel-Stadt.

Michael Gengenbacher tritt am 1. Februar 2024 seine neue Stelle als Chief Medical Officer (CMO) und Mitglied der Spitalleitung beim Bethesda Spital an.

Markus Zuber übernimmt am 1. Oktober die Leitung der St. Clara Forschung AG (St. Claraspital).

Das Präsidium der Juso Baselland besteht neu aus Clara Bonk, Angel Yakoub (Vize) und Toja Brenner (Vize).