Studenten mit geschlossenem Visier
Von PETER KNECHTLI
Jede Politikerin und jeder Politiker, der noch die Courage hat, seine Meinung ungeschminkt zu sagen, kriegt gelegentlich in den Briefkasten, was in der virtuellen Welt als "Shitstorm" gilt: besonders nette anonyme Briefe, oft unfrankiert, um die Zielperson für ihre persönliche Meinung perfekt zu strafen. Das Vorgehen ist nicht neu: Schon immer gab es Feiglinge, die ihre Giftpfeile aus dem Versteckten abschiessen.
Waren es früher aber meist Einzelpersonen, die ihre Identität verstecken, sind es mit der Verbreitung des Internets immer häufiger auch Interessengruppen, die ihre Botschaften mit Fantasienamen, aber ohne tatsächlich existierenden Personen-Absender in die Öffentlichkeit streuen wollen. Sie fürchten sich vor Strafverfolgung, vor der Angst, als Rädelsführer identifiziert zu werden, oder vor Nachteilen anderer Art.
Verlautbarungen, die bloss einen Sammel-Absender ohne real existierende Person mit Kontaktdaten enthalten, werden von unserer Redaktion nicht bearbeitet: Sie landen im Papierkorb. Dieser Unsitte wollen wir nicht noch Vorschub leisten. Wer etwas zu sagen hat, steht mit Namen dazu.
"Dass die 'Studierenden' keine Zivilcourage
aufbringen, ist absolut unverständlich."
An der Universität Basel machte letztes Jahr die wenig appetitliche Geschichte eines Professors die Runde, der als Doktorvater mit einer Studentin ein sexuelles Verhältnis einging. Der Vorfall – insbesondere die Ausnützung des bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses – löste grosse Empörung und auch ein Medien-Echo aus.
Seit Beginn des Herbstsemesters heute Montag ist der Professor wieder an der Basler Universität tätig. Die Studentin hat ihr Studium in Basel abgebrochen, nachdem ihr die erwartete Hilfe seitens der Institution nicht zuteil geworden sei.
Auch zu Semesterbeginn erreicht uns ein Offener Brief, der den Absender "Studierende der Universität Basel" und die Betreffzeile "Empört Euch!" trägt und sich unter anderem an den Universitätsrat, das Rektorat und die Öffentlichkeit wendet. Der Mail-Account lautet auch "empoert_euch@..." und lässt keinen Schluss auf die Urheberinnen und Urheber zu. Im Zentrum dieses Briefs stehen zahlreiche Forderungen, die wir hier aus den genannten Gründen nicht näher dokumentieren.
Was sich durch Journalisten nicht verifizieren lässt – auch nicht, wenn sich die Angriffe an eine Institution wie die Universität richten –, kann nicht öffentliche Relevanz beanspruchen. Das auch dann nicht, wenn die Hochschule durch Transparenz und offene Kommunikation in diesem Fall aus teils nachvollziehbaren Gründen des Persönlichkeitsrechts nicht geglänzt haben mag.
So berechtigt die Forderungen der "Studierenden" sein mögen: Dass sich die Absender in der Anonymität verstecken und als gewünschte Vorbilder die Zivilcourage nicht aufbringen, mit ihren Namen offen hinzustehen, ist absolut unverständlich: Verantwortungsflucht! Mit Nostalgie denkt man an jene Zeiten zurück, als die "Studentenführer" mit offenem Visier für ihre Sache kämpften.
Die Universitätsleitung dürfte sich hüten, die Autorinnen und Autoren eines Offenen Briefs dafür zu bestrafen, dass sie sich mit einer ehemaligen Mitstudentin solidarisch zeigen. Anderseits ist fraglich, ob die Alma Mater gewillt ist, auf Forderungen von namenlosen Autoren einzugehen, von denen in keiner Weise bekannt ist, für wen und in wessen Namen sie agieren.
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16. September 2019