Ich sammle Aludeckel und kann nicht anders
Von PETER KNECHTLI
Feiertage, Weihnachtsbäumchen, en famille, gutes Essen, um 23.55 Uhr raus in die Kälte. Die Knaller-Freaks (keine Angst: ich war auch mal einer) halten die Stille nicht aus. Sie mögen nicht warten, bis die Kirchenglocke "zwölf" geschlagen hat. Sie feuern die letzten Schläge aus dem Kirchturm weg mit ihrem Luft gewordenen Geld und hatten dafür ihren individuellen Pfüpfli-Kick.
Es blieb Zeit, Lektüre zur Hand zu nehmen, die es mir sonst nicht unter die Augen schafft. Ich blätterte den "Kirchenboten" durch. Er mutete mir etwas frömmlerischer an als auch schon. Nur keine Akteure nennen, dafür Gefallen finden an christlichen Influenzern und "YouTuber im Namen des Herrn".
Dann blieb ich an einer Lebenshilfe-Kolumne hängen, in der eine Frau Hilfe gegen Langeweile in ihrer zehnjährigen Beziehung sucht. Darin fand ich einen Satz, den ich nicht mehr los wurde: "Je älter wir werden, umso häufiger tun wir etwas zum ersten Mal."
Ich brauchte nicht lange zu überlegen, wann ich zum letzten Mal etwas zum ersten Mal getan habe. Wir pflegen im Haushalt seit Jahrzehnten ein Vernunfts-Recycling von Papier, Alu, Glas und Kunststoff, füllen unseren Kompost mit allerhand Organischem und freuen uns über die Würmer, die am Kaffeesatz knäuelweise Gefallen finden.
"Ich halte mich dabei an das bürgerliche
Gebot der Selbstverantwortung."
Es braucht Greta, um die Welt aufzurütteln und das zu tun, was die bisherige Symbolpolitik unserer Gewählten aus Opportunismus und Angsthaserei nicht zustande gebracht hat. Mit blindem Entrüstungs-Pessimismus kann ich allerdings nichts anfangen. Denn so ganz konsequent war ich auch nicht: Da ging eben auch mal Fensterkuvert ungetrennt ins Altpapier. Yoghurtbecher landeten im Abfallsack.
Und doch. Als ich neulich zu späterer Stunde ein köstliches Nuss-Yoghurt genoss, stellte ich beim näheren Betrachten des Bechers erstmals (!) fest, dass die Kartonhülle perforiert ist, um sie vom Kunststoffbecher zu trennen. Dann lachte mir die blank geleckte Innenseite des Aludeckels entgegen als wollte sie mir sagen: Da ist noch was.
Jetzt kann ich nicht mehr anders. Was ich bisher für lächerlich übertrieben hielt, praktiziere ich seither zum ersten Mal in meinem Leben: Der Deckel kommt in die Alu-Sammlung.
In Umweltfragen versuche ich mir immer Vorstellungen in grossen Relationen zu machen: Nur schon sämtliches Shampoo dieser Welt, sämtliche Seifen dieser Welt und sämtliche oral genommenen Medikamente dieser Welt schwemmt das Leitungswasser in den Schlund der natürlichen Gewässer oder, wenn's gut geht, zuerst in die Kläranlagen. Der Versuch muss scheitern, mir die Menge der Abgase aus Verbrennungsmotoren vorstellen zu können, die weltweit nur in einer Stunde freigesetzt wird.
Und da sammelt einer Aludeckel, die x-milliardenfach rezykliert werden müssten, um nur eine kleine Aluminiumfabrik betreiben zu können. Kein Gesetz zwingt mich, neben Aludosen auch Aludeckel zu sammeln. Ich erinnere mich dabei an das bürgerliche Gebot der Selbstverantwortung, das unser Handeln künftig mit imperativer Macht bestimmen wird, wie der "Kirchenbote" vielleicht einmal schreiben wird. Ich kann einfach nicht mehr anders.
1. Januar 2020
"Greta sitzt mir im Nacken"
Auch ich werde nie wieder ein Joghurtdeckeli in den normalen Abfalleimer werfen können. Das mit dem abziehbaren Karton am Becher hatte ich auch mal per Zufall gesehen und trenne diese beiden Teile seither. Manchmal ernte ich schon fast mitleidige Blicke von den Kindern davon, aber egal. Greta sitzt mir im Nacken.
Von der ganzen Greta-Inszenierung halte ich rein gar nichts, aber immerhin hat sie (und ihre Hinterleute) die Sensibilität für die Umwelt und unsere Verantwortung dafür angestossen. Wobei die "kleinen Leute", wie wir, uns wahrscheinlich schon seit Jahren bemühen. Die Ansprechpersonen sind ganz andere und da hoffe ich, dass es bei denen auch endlich mal ankommt.
Sylvie Sumsander, Birsfelden