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© Foto by Ruedi Suter, OnlineReports
Im Zweifel für den Angeklagten: Politiker Samuel Wehrli nach Freispruch mit Freundin

Das Gerichts-Protokoll im Fall Wehrli: Wie es zum Freispruch kam

Am Mittwoch begann der Prozess - am Freitag wurde der Baselbieter CVP-Politiker Samuel Wehrli vom Vorwurf des Sex mit seiner Tochter freigesprochen


Von Peter Knechtli und Ruedi Suter


Der Baselbieter CVP-Politiker Samuel Wehrli (40) steht seit Mittwoch vor dem Baselbieter Strafgericht. Vorwurf auf Anzeige seiner Ex-Frau: Er habe sich an seiner heute 12-jährigen Tochter vergangen. Die Öffentlichkeit ist vom Indizien-Prozess ausgeschlossen, nur die Medien haben Zugang. OnlineReports dokumentiert die Verhandlungen, der weit über die Kantonsgrenzen hinaus Beachtung finden, mit einem aktuellen Protokoll aus dem Gerichtssaal.


Mittwoch, 15. Mai 2002

Um 8.15 Uhr beginnt der auf drei Tage anberaumte Prozess vor dem fünfköpfigen Baselbieter Strafgericht in Liestal. In Begleitung seines Vaters erscheint Samuel Wehrli vor dem Liestaler Gerichtsgebäude. Richter Daniel Seiler stellt die in den aus baulichen Gründen verdunkelten Gerichtssaal zugelassenen Personen vor. Die Medienschaffenden stellen sich selbst vor. Fraglich sei, sagt Richter Seiler, ob die Medien bei der Befragung von Kind und Mutter anwesend sein könnten.

Zum Vorleben von Samuel Wehrli, geboren am 6. Mai 1962. Zivilstand: Geschieden. Kaufmännischer Angestellter, Wohnort Pratteln. Er hat immer noch eine feste Anstellung in einer Chemiefirma im Laufental. Verdienst um 5'500 Franken. Gesundheitlich hat er "überhaupt keine Probleme". Im April 1989 heiratete er, am 17. November 1992 wurde die Ehe geschieden und das Sorgerecht der Mutter zugesprochen. Die Scheidung ging "relativ schnell" über die Bühne. Mit dem Besuchsrecht gab es überhaupt keine Probleme. Er konnte seine Tochter Melissa (Name geändert), 1989 geboren, immer bei sich haben, wie es gerichtlich festgelegt wurde. Auch besuchte er sie häufig an ihrem neuen Wohnort im Kanton Zürich.

Wehrli weist alle Anklagepunkte kategorisch zurück

Der Verhältnis zur Ex-Frau war normal. Die Mutter opponierte nicht, wenn Wehrli Melissa zu sich nahm. Die Tochter hat er seit Herbst 1999 nicht mehr gesehen. Im Herbst 2000 hatte er noch ein kurzes Telefon mit ihr. Das zuvor aufgehobene Besuchsrecht in Begleitung wurde ihm diesen Februar durch das Zürcher Zivilgericht wieder eingeräumt. Von Seiten der Verteidigung ist Wehrlis Zurechnungsfähigkeit kein Thema, sagt sein Verteidiger Nicolas Roulet.

Die Anklagepunkte: Mehrfache sexuelle Handlungen mit einem Kind, mehrfache teilweise versuchte Vergewaltigung, ev. mehrfache sexuelle Nötigung, mehrfacher versuchter Inzest sowie Urkundenfälschung. Der Angeklagte sagt, er habe überhaupt keine Probleme mit Alkohol. Die Tochter habe bei ihm nie Alkohol getrunken: "Das ist überhaupt nicht der Fall." Zur Anklageschrift sagt Wehrli teilweise stockend und unter Tränen, er liebe seine Tochter Melissa, sämtliche Anklagepunkte weise er kategorisch zurück. Zur Urkundenfälschung bezüglich seines Lohnnachweises stehe er, er sei damals frustriert gewesen.

Zu den einzelnen Handlungen. Mutter und Tochter wurden am 22. Dezember 1999 getrennt befragt, von der Befragung der Tochter war eine Videoaufnahme erstellt worden, die das Gericht vor zwei Wochen zur Kenntnis genommen hat. Bei der Hausdurchsuchung am 7. Januar 2001 unmittelbar nach Wehrlis Verhaftung wurde eine Reihe Gegenstände beschlagnahmt: Bettüberzüge aus Kinderzimmer, Video und Fotoapparate. Es konnte gerichtsmedizinisch nichts nachgewiesen werden, das zum Nachteil des Angeklagten ausgelegt werden könnte, sagt Richter Seiler, was der Staatsanwalt bestätigt. Aus den gynäkologischen Gutachten sind keine offensichtlichen Verfehlungen nachweisbar, was auch Staatsanwalt Boris Sokoloff bestätigt.

Streit um Popcorn in Pariser Park

Das Wahrnehmung des Besuchsrechts im Jahre 1999 stellte Richter Seiler immer vor gewisse Fragezeichen. Im Herbst 1998 begannen die Probleme mit der Tochter. Melissa verbrachte ein Wochenende bei Wehrlis Bruder Kurt, der in Münchwilen AG wohnt. Dort sei Melissa laut Aussagen der Ex-Frau von Samuel Wehrli geschlagen worden, was der Angeklagte "klar dementiert". Wehrli: "Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie meine Tochter darauf kam." Darauf hin schickte er Melissa einen eingeschriebenen Brief, "um sicher zu sein, dass er ankommt". Bis Weihnachten, die im familiären Kreis auf den Beatenberg verbracht wurden, gab es keinen Kontakt zu Melissa mehr. 1999 hatte er das Kind wieder, wie normal, einmal pro Monat, bei sich.

Im Februar/März 1999 war Melissa zum letzten Mal in Pratteln. Im Juli 1999 ging Wehrli mit dem Kind nach Paris, das Kind holte er in Zürich ab. Melissa hatte laut Wehrli "eine gewisse Unruhe" in sich. Nach drei Tagen Aufenthalt in Pratteln flogen beide nach Paris, obwohl Melissa schon vor der Reise "Heimweh" geäussert hatte. Dort habe es im Park bei einem Streit um Popcorn "auch gewisse Vorfälle", sagt Richter Seiler. Wehrli schildert, wie die Tochter vorzeitig ins Zürichbiet zurück wollte. Zur Herbstmesse kam sie aber wieder zu einem Wochenende nach Pratteln. Wehrli: "Es war ein absolut normales Wochenende, es gab überhaupt keine Vorkommnisse." Zu weiteren Begegnungen kam es nicht mehr, auch zu einem geplanten gemeinsamen Besuch bei Freunden kam es nicht. Melissa wollte nicht mehr, sie gehe lieber an eine Party. Später wollte sie dann doch zum Besuch. Aber Wehrli lehnte ab, der Entscheid werde jetzt nicht mehr rückgängig gemacht. Dann brach der Kontakt zur Tochter ab.

Melissa war detailliert aufgeklärt

Die Probleme über Besuchsrecht und Unterhaltsbeiträge im Umgang mit Ehegatten kommen nach der Pause zur Sprache. Mit dem Besuchsrecht gab es "überhaupt keine Probleme". Anfang 1998 kam es jedoch zu "Diskussionen" mit der Ex-Frau wegen der Höhe der an sie zu zahlenden Alimente. Wehrli erhielt eine Betreibung von seiner Ex-Frau, die dann ad acta gelegt wurden, nachdem die Zahlungen wieder aufgenommen wurden. Wehrli: "Ich spürte in der ersten Hälfte 1998, dass das Kind gegen mich aufgehetzt wurde. Darauf konnte ich mit meiner Ex-Frau nicht mehr reden." Das Kind habe immer vom Konflikt zwischen ihm und seiner Ex-Frau mitbekommen und sei ihm gegenüber gelegentlich aggressiv gewesen. "Ich lasse mich von Dir nicht mehr anschreien und ausnützen. Lass mich endlich in Ruhe", schrieb die Ex-Frau vor dem Paris-Besuch. "Ab sofort nehme ich keine eingeschriebene Briefe mehr von Dir an."

In sexuellen Bereichen war Melissa, die bei der letzten Begegnung knapp zehn Jahr alt war, allein durch seine Mutter aufgeklärt worden. Wehrli: "Ich betrachtete dies nicht als meine Aufgabe. Ich hatte über sexuelle Belange nie Diskussionen mit Melissa." Schon mit sieben Jahre war das Kind "genaustens aufgeklärt" über Themen wie Kindermachen oder Aids. Wehrli fiel einzig auf, "dass die Tochter immer baden wollte". Den Wassereinlauf habe sie zur Selbstbefriedigung genutzt. "Ich bin da schon etwas erschrocken."

In seiner Wohnung hatte Wehrli wohl eine Videokamera, aber kein Videoabspielgerät. "Am Fersehen schauten wir auch nie Filme, in denen nackte Menschen vorkamen." Einzig im Hotelzimmer in Paris, wo Melissa einmal allein Fernsehen schaute, sprach sie hinterher von Sex. "Ich konnte mir aber keinen Reim darauf machen." Laut dem Gerichtspräsidenten soll es Anfang 1998 im Fricktal einen Vorfall mit ihrem damals 13jährigen Cousin gegeben haben, von dem Melissas Mutter erfahren habe.

Die Therapeutin: "Melissa schwer traumatisiert"

Melissas Psychotherapeutin und Vertrauensperson, eine erfahrene Berufsfrau aus Zürich, ist als erste Zeugin geladen. Sie ist von der Schweigepflicht entbunden. Am 6. August 2000 erstellte sie den ersten Therapiebericht im Auftrag des Statthalteramts Liestal. Am 2. Februar 2000 - zum Zeitpunkt, als ihr Vater in Untersuchungshaft sass - hielt sie die erste Therapiesession mit Melissa ab. Das Mädchen habe gesagt, sie habe Angst, es könnte sein, dass ihr Vater seine Arbeitsstelle verliere, sie fühle sich durch ihn an Leib und Leben bedroht ("Wenn du das jemandem erzählst, dann bringe ich dich um"). Sexuelle Übergriffe und Drohungen durch den Vater seien thematisiert worden. Später habe das Mädchen, das gegenüber seinem Vater einen tiefen Zwiespalt zwischen Zuneigung und Abscheu offenbart, dann genauere Aussagen zu Details der Übergriffe gemacht. Melissa, die wortgewandt sei, sei "aggressiv und wütend" gewesen. Am liebsten, habe sie der Therapeutin gesagt, möchte sie "dem Vater in die Eier ginggen".

Die Therapeutin, die unter anderem mit Comics arbeitete, glaubt nicht, hielt Melissa für "schwer traumatisiert". Sie könne sich nicht vorstellen, "dass man solche Aussagen in dieser Präzision einem Kind suggerieren kann". Laut der Therapeutin kann es sich um kein anderes Trauma handeln als ein sexuelles. Aussergewöhnlich waren seine Aussagen über Sperma, Spermaqualität oder Penis, die für ein Zehnjähriges "nicht altersadäquat" waren. Die Therapie hatte das Ziel, Melissas Trauma zu bewältigen. Dezidiert hält es die Fachfrau nicht für möglich, dass Melissa bei ihren Übergriffs-Schilderungen Realität und Fantasie durcheinander brachte. Melissa habe einmal von einem "Pimmelzeiger" gesprochen, der aber nicht ihr Vater gewesen sei, sondern sich auf einen Vorfall in ihrem Wohnort. Melissa habe im übrigen sehr wenig über die Konflikte ihrer Eltern gesprochen.

Die Kadenz der Therapiesitzungen wurde Anfang 2001 reduziert, weil es dem Opfer besser ging, und weil es selbst den Wunsch äusserte, eine Pause zu machen. "Ich sehe sie aber immer noch, einfach in grossen Abständen", so die Therapeutin vor Gericht.

Medien werden bei Opferbefragung ausgeschlossen

Auf Antrag und Empfehlung der Opferanwältin, der Therapeutin und der Staatsanwaltschaft beschliesst der Gerichtspräsident am Mittag beschliessen, Melissa am späteren Nachmittag unter Ausschluss der Medien zu befragen. Er macht dafür Persönlichkeitsschutz geltend. Bei der Befragung der Mutter am Donnerstagmorgen, liess der vorsitzende Richter durchblicken, könnte die Medienpräsenz wieder erlaubt werden. Ausgeschlossen wurden auch Vater Samuel Wehrli sowie dessen Vater, Melissas Grossvater, nicht aber der Verteidiger des Angeklagten.

Schulpsychologe führte das erste Gespräch mit Melissa

Der Nachmittag beginnt mit der Befragung des Schulpsychologen, der das erste Gespräch mit Melissa geführt hatte. Es begann damit, dass die Mutter ihn anrief, weil Melissa nicht mehr gern zu ihrem Vater gehe. Der Vater habe ihr gesagt, das Schlimmste, was er gemacht habe, sei, dass er Melissa auf die Welt gebracht habe. Der Angeklagte berühre sie auch, wo sie es nicht wolle, sie müsse mit dem Vater ins Bett liegen, er schlage sie, er sei auch oft betrunken. Melissa habe von einer Fernsehsendung erzählt, die sie mit ihrem Vater uns dessen Freundin ausgeschaut habe, und in der nackte Menschen aufgetreten seien. Wehrli sei dabei aufgestanden, habe sich ausgezogen und sei nackt herumgetanzt. Ein vertrauliches Gespräch, wie es Wehrli von ihm im Frühjahr 2000 verlangt hatte, lehnte der Schulpsychologe ab, da er dazu keinen Auftrag hatte. Die Schilderungen des Kindes seien für ihn, den Psychologen, "ernst zu nehmen gewesen". Er habe nicht den Eindruck gehabt, dass das Kind von Drittpersonen beeinflusst worden sei.

Auf Befragung durch das Gericht sagt Wehrli, mit seiner Tochter habe er nur im ganz jungen Alter gemeinsam gebadet, später habe er beim Betreten des Badezimmer angeklopft. Ebenso sei das Mädchen in jungen Jahren jeweils am Morgen freiwillig gelegentlich in sein Bett geschlüpft.

Während sich die Journalisten zurückziehen, nähert sich Melissa - aufrecht, in der Art einer selbstbewussten jungen Dame - in Begleitung zweier Frauen dem Gerichtsgebäude, setzte rasch die Sonnenbrille auf, um sie beim Betreten des Gerichtsgebäudes wieder abzuziehen.


Fazit des ersten Gerichtstages

• Die Atmosphäre im Gerichtssaal war freundlicher als der Eindruck, den dessen Verdunkelung erweckte.
• Über die Chronologie der Ereignisse den Überblick zu behalten, ist selbst für Insider ein Ding der Unmöglichkeit geworden.
• Für den Ausschluss der Medien bei der Befragung des Opfers (wessen auch immer) gibt es respektable Gründe. Dennoch hätte die Anwesenheit der Presse ein authentisches Bild der 12,5-jährigen Tochter, ihrem Auftreten und letztlich ihrer Glaubwürdigkeit vermittelt. Diese Möglichkeit hat der Gerichtspräsident vereitelt. Da keine intimen Fragen mehr gestellt wurden - und der Leidensdruck damit erheblich reduziert wurde -, schien uns der Medienausschluss nicht gerechtfertigt.
• Sowohl die Richter wie auch der Angeklagte und die Zeugen waren im Publikum akustisch mehrheitlich schlecht verständlich - suboptimal für die journalistische Arbeit.
• Der Gerichtspräsident führte die Verhandlung unspektakulär mit geradezu stoischer Ruhe und schien gut vorbereitet.
• Die Aussagen der beiden Fachleute - Psychotherapeutin und Zürcher Schulpsychologe - attestierten Melissas Aussagen hohe Glaubwürdigkeit.
• Der Prozessverlauf ist noch völlig offen.



Donnerstag, 16. Mai 2002

Der Gerichtspräsident fasst die am Mittwochnachmittag unter Ausschluss von Presse und Angeklagtem geführte Verhandlung mit Tochter Melissa zusammen. Sie hielt an ihren bisherigen Aussagen und Vorwürfen fest, wollte aber nicht im Detail auf die Vorwürfe eingehen. Sie habe nichts dagegen, den Vater wieder zu sehen, allerdings mit Begleitperson. Melissa ist noch in Therapie, aber gehe ihr heute gut. Die Medienberichterstattung habe ihr schwer zu schaffen gemacht.

Die Opfer-Anwältin kritisierte, dass Wehrlis Verteidiger in einem TV-Interview auf SF DRS den vollen Namen des Mädchens nannte. Sowohl Anwalt Roulet wie auch die Autorin des Beitrags entschuldigten sich dafür ("unbeabsichtigt") in aller Form. Der Anwalt der Ehefrau kritisierte die Illustration auf OnlineReports, auf der Melissa nur schlecht getarnt sei.

Für die Befragung der ehemaligen Frau Wehrlis als Auskunftsperson beantragte deren Anwalt Martin Pestalozzi, Medien und Wehrlis Vater auszuschliessen. Der Gerichtspräsident lehnt das Begehren ab.

Melissas Mutter: "Es ist der absolute Alptraum"

Melissas Mutter (38), gelernte Krankenschwester, hatte festgestellt, dass sich das Verhältnis zwischen Melissa und den Vater immer mehr verschlechterte. Die Tochter hatte nach den Besuchen Mühe, sich nach den Besuchen beim "Sonntags-Papi" wieder an den Alltag zu gewöhnen. Sie habe auch Angst vor ihm ("er schlägt mich", "er droht mir"), nannte aber keine konkreten Hintergründe. Die Sommerferien in Paris und anderswo wollte sie vorzeitig abbrechen. Nach den Besuchen beim Vater sei sie jeweils "innerlich nervös und aggressiv" und nicht mehr lebendig und fröhlich wie sonst gewesen, sagt die Mutter. Zur Basler "Herbstmäss" besuchte sie den Vater im Oktober nochmals. Die Organisation der Besuchs-Wochenende lief soweit problemlos, einzig der Transport und das Finanzielle gaben zu Diskussionen Anlass.

Die Mutter, so erklärte sie, mache sich heute auch Vorwürfe. Es sei auch für sie schwer gewesen, die telefonischen Attacken Melissas gegenüber dem Vater zu ertragen. Melissa bekam auch einen Teil der Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Vater mit. Melissa habe Wehrlis Drohungen bezüglich der angeblich illegalen Beschäftigung eine Haushaltshilfe durch die Mutter mitbekommen ("Mami, kommst Du jetzt ins Gefängnis?"). Nach der Scheidung lebte die Mutter auf dem finanziellen Minimum und konnte ihrer Tochter darum keine speziellen materiellen Wünsche erfüllen.

Die Mutter kam nochmals in Erwartung, verlor aber im fünften Monat das Kind. Dabei wurde natürlich Melissa auch mit Fragen der Fortpflanzung konfrontiert. Für Aids interessierte sie sich besonders. Melissa wollte hartnäckig wissen, wie Aids übertragen wird. Der Vorfall mit dem Cousin ("sexuelle Spiele"), der einige Jahre älter ist, ereignete sich in Melissas Kindergartenalter. Es war eine einmalige Sache. An einen authentischen Vorfall, bei dem sich ein Mann vor Melissa entblösste, kann sich die Mutter nicht erinnern. Einmal, um 1998, kam Melissa heim und gab der Mutter stürmisch einen Zungenkuss, was die Mutter unangenehm empfand. In die Beziehung von Melissa zum Vater habe sie sich nicht eingemischt. Aber manchmal sass Wehrli Jahre nach der Scheidung unangemeldet in ihrer Küche.

Beim Schulpsychologen erfuhr die Mutter erstmals von möglichen Übergriffen. Melissa habe sich gefreut auf den Termin beim Schulpsychologen. Als die Mutter dort von den Schilderungen erfuhr, "fiel ich fast unter den Tisch". Die Mutter suchte dann eine Beratungsstelle auf, "die mir riet zur Polizei zu gehen". Bei der Beratung wurde auch besprochen, dass ein Rechtsverfahren auch ärztliche und gynäkologische Untersuchungen erfordere. Melissas Mutter schildert, wie Tochter und Vater am Telefon immer gestritten hätten und wie sich die Tochter über ihn beschwert habe ("er lügt mich immer an"). Auf die Mitteilung aber, dass sie vor dem Schulpsychologen aussagen dürfe, habe sie mit einem begeisterten "Yesss!" reagiert.

"Alles andere als ein Racheakt"

Emotional stark bewegt schildert die Mutter die Wirkung der ärztlichen Untersuchungen ihrer Tochter: "Das ist für mich der absolute Alptraum, wenn man das eigene Kind auf dem Gynäkologen-Stuhl sieht", sagt sie tränenerfüllt und fährt fort - auf die Konsequenzen einer Einschaltung der Justiz anspielend: "Heute begreife ich jede Frau, die nichts macht." Im Kampfsport habe Melissa neue Kraft gefunden, auch wenn sie hin und wieder in ein "rechtes Tief" falle. Die Aufklärung ihrer Tochter habe sie als Krankenschwester mit Hilfe eines Buches sachlich vorgenommen, aber die Dinge auch beim Namen genannt. Der Verteidiger betont, dass sich die Mutter immer zurückgenommen und "alles andere als einen Racheakt" geführt habe. Die Mutter führt aus, ihr Ex-Mann habe vor ihrer Aussage bei der Polizei gegen sie Anzeige erstattet, weil sie illegal ein tschechisches Dienstmädchen beschäftigt habe.

Auf die Frage des Gerichtspräsidenten beteuert Wehrli erneut, es hätten "nicht die geringsten Übergriffe" stattgefunden. Er bestreitet weiterhin sämtliche Anklagepunkte. Nie habe er Ängste des Kindes verspürt, deshalb könne er sie auch nicht erklären. Die Kinderalimente habe er immer bezahlt, auch die Beiträge an seine ehemalige Ehefrau, von zwei Fällen ausgenommen.

Staatsanwalt fordert 3,5 Jahre Zuchthaus

Für Staastanwalt Boris Sokoloff gibt es eigentlich nur zwei Varianten zu diskutieren: Entweder hat Melissa ein gigantisches Lügengebäude aufgebaut oder der Vater hat sein Kind schwer missbraucht. Die Geburtsstunde der Aussage sei klar: Die Mutter habe erstmals am 13. Dezember 1999 vom Schulpsychologen von den Übergriffen erfahren. Es sei nicht so, dass sie den Schulpsychologen aufgesucht habe. Die Vorwürfe von Tochter und Kindsmutter seien glaubhaft - auch wenn im Obergutachten Zweifel an der Befragungstechnik zum Ausdruck gekommen sei -, und Wehrlis Komplott-Theorie sei unglaubwürdig. Die Zuhilfenahme der anatomischen Puppen durch den Schulpsychologen sei korrekt gewesen und habe keinen suggestiven Effekt auf das Kind gehabt.

Chronologie und Aussagen von Melissa sprächen für die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Die sexuellen Handlungen seien klar einzig durch den Vater vorgenommen werden. Sie habe immer von sich aus ihren Vater als Täter bezeichnet. Bemerkenswert sei, wie Melissa Details und erstaunliche Angaben zu Übergriffen äusserte, die ein Mädchen dieses Alters nicht erfunden haben könne. "Erschreckend" sei auch, wie Melissa Fragen beantworten kann, für die sie in ihrem Alter eigentlich keine Antworten geben dürfte.

Die realitätsnahen verbalen und mimischen Beschreibungen liessen es als undenkbar erscheinen, dass es sich um eine inszenierte Falschbeschuldigung handle. Es gebe im übrigen dafür auch kein Motiv. Auch die Obergutachterin habe die Möglichkeit einer Falschbeschuldigung eher verworfen. Die Aussagen der Mutter, die gegen das Besuchsrecht nichts einzuwenden gehabt habe, seien "sehr ausdrücklich" gewesen. Melissa sei auch bezüglch sexueller Aufklärung nicht besonders intensiv instruiert worden. An der Hauptverhandlung am Mittwoch habe Meslissa die Vorwürfe im allgemeinen nochmals ausdrücklich bestätigt. Sie habe genau gewusst, dass er ihr etwas angetan habe. Trotzdem wolle sie ihrem Vater "nochmals eine Chance geben".

Laut Aussagen der Psychotherapeutin kann die Mutter die Vorwürfe ihrer Tochter nicht eingeflüstert haben. Vielmehr habe das Mädchen der Mutter aus Scham vieles nicht erzählt. Es sei glaubhaft, dass der Angeklagte Melissa in verschiedenster Art bis hin zum Weltuntergang gedroht habe. "Geschickt" habe Wehrli seine Tochter in eine Zwangslage versetzt. Wehrli habe dagegen keine plausiblen Erklärungen für die Belastungen seiner Tochter geben können. Der Angeklagte habe Mühe, den Willen seiner Tochter zu respektieren. Es sei erstaunlich, dass er seiner Tochter eingeschreibene Schreiben schicke. Mit unbeschreiblicher Energie wolle Wehrli in narzisstischer Art allen Menschen zeigen, wie sehr er Opfer eines Komplotts seiner Ex-Frau geworden sei. Das Verschulden über einen langen Zeitraum hinweg wiege sehr schwer. Der Angeklagte habe jahrelang das Vertrauen seiner Tochter schamlos ausgenützt. Der Angeklagte zeige keine Reue und Einsicht. Verwerflich sei, wie er seine Tochter und seine Ex-Frau zu Tätern machte, und dass er es zuliess, dass die Medien Bilder seiner Tochter veröffentlichten. Auch habe sich seine Vorwärts-Verteidigungsstrategie kontraproduktiv ausgewirkt. Die Folgen für das Kind seien nicht absehbar.

Staatsanwalt Sokoloff beantragt Schuldspruch und eine Zuchthausstrafe von 3,5 Jahren. Den Vorwurf der Urkundenfälschung (es sei eine "schriftliche Lüge")liess er fallen.

Opfer-Anwältin: "Gefühls-Karussell"

Esther Wyss, Anwältin von Melissa, schliesst aus, dass die Tochter bei den Befragungen fabulierte. Das Mädchen sei auf suggestive Einflüsse nicht besonders empfänglich. Melissa werde als "reif" und "mit eher hartem Köpfchen" geschildert. Es dürfe nicht sein, dass wegen eines Theoriestreits über die Methode der Befragung strafbare Taten ungesühnt blieben. Man habe Melissa weniger Glaubwürdigkeit zugebilligt als dem Vater, weil er "in der Öffentlichkeit bekannt ist". Eine Genugtuungssumme rechtfertige sich. Melissa habe den Wunsch, so zu sein, alle Jugendlichen. Sie will nicht ständig an die Übergriffe und an die "Medienkampagne" (so Wyss) erinnert werden. Das Gefühls-Karussell, in dem sich Melissa befinde, sei eine starke Belastung.

Mutter-Anwalt: "Medien-Kampagne"

Martin Pestalozzi, Anwalt der Mutter, machte nochmals einen Schadenersatz in Höhe von 30'000 Franken geltend. Es sei auch mit künftigen Therapiekosten zu rechnen. Auch Pestalozzi spricht von einer "Medien-Kampagne", die für die Mutter schwer erträglich sei. Melissas Mutter habe er vor zehn Jahren, als er sie bereits während der Scheidung vertrat, "als eine vernünftige Frau kennen gelernt". Herr Wehrli dagegen nehme es mit der Wahrheit und der Bezahlung der Alimente nicht genau.

Verteidiger fordert Freispruch

Verteidiger Nicolas Roulet beginnt sein eineinhalbstündiges Plädoyer mit dem Sokrates-Satz "Ich weiss, dass ich nichts weiss". Weder Staatsanwalt noch die Hauptverhandlung hätten bewiesen, dass die Schuld feststeht. Das Gericht habe von einer Null-Hypothese auszugehen. Das Grundproblem liege in den Eltern, die sich "nie vollständig gelöst" hätten. Melissa imitiere die Mutter und beschimpfe den Vater ziemlich intensiv. Die Anklageschrift sei "dürftig", es würden darin nur "Vermutungen" geäussert. So habe der Staatsanwalt nie nachgewiesen, dass Wehrli seine Tochter mit Alkohol ("Kleiner Feigling") gefügig gemacht habe. Auch im Obergutachten sei diese Verdächtigung nicht aufgeführt

Schon vor dem Pariser Besuch habe es zwischen Wehrli und seiner Ex-Frau starke Spannungen gegeben. Anfänglich seien die beiden Erwachsenen mehr oder weniger aneinander vorbei gekommen. Die Wehrli-Aussage in Paris, er hätte Melissa am liebsten nicht gezeugt, habe das Kind aber stark erschüttert. Dabei habe Melissa "doch auch gern einen Vater gehabt, der mit ihr Fussball spielen würde". Immer wieder wurde etwas versprochen, was dann durch den Vater nicht eingelöst wurde. Erstaunlich sei, dass Meliassa sich gefreut habe, dass sie vor dem Schulpsychologen aussagen und dem Vater einen "reinbremsen" könne. Die einzige eindeutige Aussage von Melissa war, dass sie vom Vater am Rücken berührt worden sei. Die Geburtsstunde der sexuellen Beschuldigung war die Arbeit an den anatomischen Puppen des Schulpsychologen, der "durchaus voreingenommen" gewesen sei. Das Kurzprotokoll und das Video der Befragung seien nicht kongruent. Die Fragen waren suggestiv ausgerichtet. Hier erzählt Melissa keine eigene Geschichte von sich aus.

Melissa war für ihr Alter sehr gut aufgeklärt. Es sei doch klar, dass sie in ihrer neugierigen Art von ihrer Mutter habe wissen wollen, was Sperma sei. Melissas Aussage in der Befragung "Ich habe alles gesagt, was ich musste" sei doch auffällig, auch habe sie später nicht mehr von "ich", sondern von "uns" gesprochen. Dies weise klar auf den suggestiven Charakter hin. Auch sei Melissa tatsächlich bei früher erzählten Geschichten die Fantasie durchgebrannt. Auch seien die Aussagen über ihre Angstzustände stark widersprüchlich. Auch kindliche Zeichnungen, die Wehrli belasten, "wirken konstruiert".

Man müsste Herrn Wehrli als Kamikaze-Flieger bezeichnen, wenn er sich bei der Vormundschaftsbehörde für intensiv für das Besuchsrecht einsetzt im Wissen, dass die Behörde sicher auch mit Melissa den Kontakt suchen werde und er wirklich Täter gewesen wäre.

Melissas Therapeutin habe auch gesagt, dass Melissa keine belastenden Aussagen ihr gegenüber abgegeben habe. Auch habe sie das Vorurteil gehabt, das Kind sei traumatisiert. Sie sei keine Fachperson, sondern Partei für Melissa. Der Schulpsychologe habe die Erstnotizen weggeworfen. Das ist professionell. Da wurde dafür gesorgt, dass etwas nicht mehr vorhanden ist. Es sei unverständlich, dass das Obergutachten dem Schulpsychologen besonderes professionelles Vorgehen attestiere.

Die Mutter habe sich klar geäussert, dass Melissa die Probleme der Eltern mitbekommen habe. Von Küssen Melissas gegenüber ihrer Mutter in irgend einer Art und Weise sei im bisherigen Verfahren nie die Rede gewesen. Auch das gynäkologische Gutachten sage nichts aus, das als Beweise für Übergriffe gewertet werden könnten.

Verteidiger Roulet verweist auf einen Bundesgerichtsurteil, wonach Therapeuten und Gutachter klar zu trennen sind. Es gehe auch nicht an, dass mit anatomischen Puppen oder nonverbalem Verhalten einer Therapeutin ein Bezug zu sexuellen Handlungen des Angeklagten hergestellt werden dürfe.

Da der Staatsanwaltschaft die Vorwürfe nicht habe beweisen können, plädiere er im Zweifel des Angeklagten für Freispruch. Die Zivilforderung soll abgewiesen werden.

Samuel Wehrlis Schlusswort

Stehend hält Samuel Wehrli das Schlusswort. Er geht kurz auf einzelne Ereignisse und Aspekte ein. Er liebe seine Tochter, die seit 1992 sieben verschiedene Wohnorte gehabt habe, und er habe im erzieherischen Umgang mit ihr Fehler gemacht ("Ich war vielleicht manchmal zu inkonsequent"). "Ich habe meiner Tochter nichts angetan, ich verzeihe meiner Tochter, ich hoffe auf Gerechtigkeit."


Fazit des zweiten Gerichtstages

• Tageslicht erfüllte heute den Gerichtssaal - Bravo!
• Suggestion oder keine Suggestion, das ist hier die Frage. Wie glaubwürdig sind Melissas Aussagen? Waren sie durch die von Wehrli geschiedene Mutter beeinflusst? Oder hat das junge Mädchen so Intimes aus eigenem Erleiden so authentisch geschildert? Soviel ist absehbar: Die Gerichtskammer hat einen äusserst schwierigen Entscheid zu fällen.
• Der Staatsanwalt hielt ein recht starkes Plädoyer - aber reichen die Beweise?
• Der Gerichtspräsident liess die Medien bei der Befragung von Melissas Mutter zu. Dies war, wie sich zeigte, ohne weiteres vertretbar und diente dem Erkenntnisgewinn der zugelassenen Beobachter.
• Gemessen an der fortschrittlichen Baselbieter Öffentlichkeitskultur eher seltsam wirkte das Befremden, das der Zürcher Anwalt Martin Pestalozzi, Rechtsvertreter von Melissas Mutter, über die Medienpräsenz im Gerichtssaal äusserte. In Zürich - so meinte er fast triumphierend - würden die Medien in einem solchen Fall ausgeschlossen und bestenfalls mit einem "dürren Communiqué" bedient. Wer schon in Zürich recherchiert hat, kann ein Lied von der geschlossenen Bastion "Zürcher Justiz" singen. Von Transparenz kann dort keine Rede sein.
• Pestalozzi bemängelte auch das Bild, das Samuel Wehrli mit seiner Tochter zeigt, und das OnlineReports publiziert hat. Wir halten fest: Wir haben das Bild - aus eigener Initiative - in einer Weise bearbeitet, die eine Identifikation von Melissa unmöglich macht. Zudem hat sich Melissa seither äusserlich signifikant verändert.
• Auffällig: Fragen an den Angeklagten und die Zeugen stellten nur die männlichen Richter, nicht aber die zwei Frauen der fünfköpfigen Kammer.
• Der Gerichtsweibel war nett und kooperativ. Danke.



Freitag, 17. Mai 2002

Der Freispruch

Schuldig? Oder nicht schuldig? Es ist heiss an diesem beinahe hochsommerlichen Nachmittag. Vor dem Gerichtsgebäude haben sich die Kamerateams in Position gebracht - Richtung Bahnhof. Von dort schreitet er nun herüber, wie immer in Begleitung seines Vaters Willi: Samuel Wehrli, der Angeklagte. Die beiden überqueren die Strasse. Wehrli Junior gibt ein paar Antworten. Ja, er sei zuversichtlich, obwohl gestern Donnerstag furchtbare Behauptungen gegen ihn vorgebracht worden seien. Falsche, ungerechte und verletzende Vorwürfe seien das gewesen, sagt der Angeklagte.

Dann geht er die Treppe hoch, zweiter Stock, und schliesslich rein in den angenehm kühlen Gerichtssaal. Die Richter und Richterinnen haben bereits Platz genommen. Ernst mustern sie die hereinströmenden Medienleute.

Der Angeklagte nimmt Platz, mitten im Raum, genau dem Gerichtspräsidenten gegenüber. Der Angeklagte lehnt sich an die Rückenlehne, seine Arme liegen auf den Oberschenkeln. Schuldig? Oder nicht schuldig? Was wird das Gericht entscheiden in dieser undurchsichtigen, widersprüchlichen und für alle schmerzhaften Familiengeschichte, bei dem ein Kind seinen Vater derart schwer belastet? Bei dem es um höchst Intimes, um Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, um Macht und Ohnmacht, um Liebe und Rache geht oder gehen könnte. Vielleicht aber auch noch um ganz anderes, hier gar nicht Angesprochenes. Ein Eltern-Kind-Drama, bei dem es sogar abgebrühten Medienleuten unwohl ist, weil sie über Dinge schreiben müssen, die man sich lieber nicht vorstellen will. Aber muss, so wie das Gericht, der Staatsanwalt, der Verteidiger, die Expertinnen und Experten, die Medienleute und schliesslich die Öffentlichkeit - um wenn immer möglich herauszufinden, wer Wahres, Halbwahres oder Gelogenes sagt.

Es ist 16. 20 Uhr. Gerichtspräsident Daniel Seiler verliest das Urteil. Der Angeklagte Samuel Wehrli wird von allen Anklagepunkten im sexuellen Bereich freigesprochen. Die Genugtuungsforderungen der Tochter und ihrer Mutter wird auf den Zivilweg verwiesen. Die beschlagnahmten Gegenstände soll der Angeklagte zurück erhalten. Samuel Wehrli wird aber wegen Urkundenfälschung - es geht um eine Falschdeklaration seiner Lohnbezüge - zu 2'500 Franken und einer Probezeit von 2 Jahren verurteilt. Die Prozesskosten von 10'500 Franken übernimmt der Staat, Wehrli muss die Urteilsgebühr von 500 Franken berappen.

"Das Kind ist keine Lügnerin"

Das Gericht, begründet Daniel Seiler kurz, habe sich der Wahrheit aufgrund der schlechten Faktenlage nur "annähern" können. "Wir sind im Zweifel, ob uns das gelungen ist." Mit Sicherheit sei aber das Opfer - das Kind der zerstrittenen Eltern - aus der Sicht der Gerichts in jeder Beziehung und auf der ganzen Ebene von den Vorfällen vor und während dem Prozess die am meisten betroffene Person. Dann wendet sich Seiler direkt an die anwesenden Medienleute. Diese sollten Schlagzeilen vermeiden, in dem das Opfer als Lügnerin dargestellt werde. "Wir können das nicht feststellen. Gehen sie mit dem Begriff 'Opfer' sehr vorsichtig um." Dann verordnet der Gerichtspräsident eine kleine Pause. Die Medienleute gehen hinaus. Einer schimpft über diese "Überraschung", er müsse nun seinen bereits geschriebenen Kommentar zur Verurteilung Wehrlis "spülen"

Nach der Pause beugt sich Samuel Wehrli nach vorne, seine Arme ruhen nun auf dem Tisch. Gerichtspräsident Daniel Seiler holt zur umfassenden Begründung aus. Da die Grundlagen zur Wahrheitsfindung "ungenügend" waren, sei die Annäherung an das tatsächlich Geschehene "fast ungmöglich" gewesen. "Wir haben nichts, das objektivierbar wäre und die Schuld des Verurteilten beweisen könnte." Sämtliche Abklärungen seien "negativ" gewesen, sogar das gynäkologische Gutachten. Und eine DNA-Analyse habe auch nicht vorgenommen werden können. "Was bleibt da für ein Gericht übrig?", fragte der Vorsitzende. Selbst die Aussagen der Zeugen halfen nicht weiter. Die Richtenden seien sich einig gewesen: Deren Zeugnisse dienten höchstens dazu, ein beweismässig gestütztes Bild zu untermauern oder in Frage zu stellen. Ja, man hätte genau so gut auf die Zeugen verzichten können.

Es fehlen genügend stichhaltige Beweise

Die "Geburtsstunde" dieser unheilvollen Geschichte, fährt der Richter fort, sei das aufgezeichnete Gespräch mit dem Schulpsychologen gewesen. Dieser fragte das Kind, machte stichwortartige Notizen und verarbeitete sie in sein Protokoll. Das Mädchen macht erstmals konkrete Vorwürfe - die ersten Anhaltspunkte für sexuelle Übergriffe auch massiver Art. Es sollten aber die letzten konkreten Aussagen des Kindes sein, "die Hand und Fuss hatten". Denn alle Aussagen, die später gemacht wurden, seien nicht hieb- und stichfest festgehalten oder mit teils unprofessionellen und suggestiven Fragen aus dem Mädchen herausgeholt worden. Das sei insbesondere bei der Zürcher Polizei so gewesen, erklärt der Gerichtspräsident. Die Obergutachterin, auf die sich das Gericht bei seiner Wahrheitsfindung besonders abstützte, warnte davor, auf die bei der Polizei gemachten Aussagen abstützen zu wollen und sie im Verfahren auch noch zu verwenden. So sei es für die Richtenden "extrem schwierig" geworden, eine andere Beurteilung vorzunehmen. Und auch der Bericht der Therapeutin habe keine Klärung gebracht. "Er konnte nicht helfen, festzustellen, ob sexuelle Übergriffe stattfanden."

Zu viele Suggestiv-Fragen bei der Befragung

Die Befragungen des Kindes seien allgemein und aus den verschiedensten Gründen unzulänglich gewesen, fährt Richter Seiler fort. So sei etwa der Vater schon bei der Befragung als Täter festgestanden, was die Rechtssprechung klar verbiete. Oder dem Kind sei vielfach mit suggestiven Fragen die Möglichkeit genommen worden, eine relativ freie Antwort zu geben. Dies werde auch deutlich bei der Betrachtung der Videobänder. So könnten selbst diese nicht als Beweismittel herbeigezogen werden. Man habe zudem festgestellt, dass das Mädchen teils auch Jahre zu spät befragt wurde und dass es nur einmal wirklich detaillierte Aussagen machte. Unterlassen wurde auch, nach einem anderen Täter als der Vater zu fragen. Daniel Seiler: "Das sind gravierende Mängel, die von der Obergutachterin festgestellt wurden." Mängel, die auch das Gericht moniert hätte. Das Fazit aller Fehler bei der Befragung von Melissa: "Was anfangs verpasst wurde, kann das Gericht später nicht mehr nachholen."

Von ganz zentraler Bedeutung sei für das Gericht aber die von Expertenseite immer wieder betonte Tatsache: "Aus keinem wie auch immer gearteten Verhalten eines Kindes kann ein Hinweis auf ein erlittenes Sexualdelikt abgeleitet werden." Genau deshalb sei es so wichtig, dass die erste Einvernahme richtig gemacht wird. Das aber fehlt uns in diesem Fall. Wenn solche Fälle von einem Gericht seriös beurteilt werden sollen, dann muss die erste Einvernahme gut durchgeführt werden. Ist das nicht der Fall, wird die Gefahr eines Freispruchs enorm gross." Gemäss neuem Opferhilfegesetz dürfe ein Kind nicht mehr als zweimal einvernommen werden - immer auch mit Video.

"Komplott-Theorie entbehrt jeder Grundlage"

Daniel Seiler kommt nun auf das gespannte Verhältnis zwischen Tochter und Vater zu sprechen. Sicher sei die Tochter durch den Satz in Paris, wonach der Vater sie besser nicht auf die Welt gebracht habe, tief verletzt worden. Melissa sei ein intelligentes Mädchen, das damals auch sexuell aufgeklärt war, deftige Ausdrücke verwenden konnte ("in d‘Eier gingge") und sicher unter der Konfliktlage zwischen Vater und Mutter gelitten habe. Es sei "wahnsinnig schwer", die Aussagen eines Kindes in einer Trennungssituation auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Das Gericht sei sich aber "sicher, dass eine Komplott-Theorie zwischen Mutter und Tochter jeglicher Grundlage entbehrt".

Alles, was sonst dargestellt worden sei in diesem Fall, lasse nur eine Antwort zu: "Wir wissen es nicht - es fehlen die Beweise." Deshalb gelte hier der Grundsatz - "im Zweifelsfalle für den Angeklagten".

Schliesslich wendet sich der Gerichtspräsident direkt an Samuel Wehrli - mit einem Fingerzeig. Das Gericht sei durch seine "Medienkampagne befremdet" gewesen. "Mit diesem Vorgehen haben sie dem Kind geschadet, auch wenn das für sie der einzige Weg schien. Wir hoffen, dass sie sich hier mehr zurückhalten, zumal sie das Opfer ja gerne haben." Um 17.30 Uhr schliesst Gerichtspräsident Seiler die Hauptverhandlung. Ob der Staatsanwalt appellieren wird, ist noch offen.

Wehrli will neue Beziehung zur Tochter aufbauen

Samuel Wehrli scheint wie erlöst zu sein. Er sammelt sich kurz, bevor er vor das Gerichtsgebäude tritt. Dort erwartet ihn seine Freundin. Die beiden schliessen sich in die Arme und bleiben eine kleine Ewigkeit so stehen. Melissas Vater laufen die Tränen über die Backe. Dann fasst er sich und gibt den Medien Auskunft, als habe er noch nie etwas anderes getan. Zu OnlineReports sagt Wehrli: "Eine Riesenlast ist von mir gefallen. Ich fühle mich sehr erleichtert. Das Wichtigste wird für mich sein, dass ich zu meiner Tochter eine neue Beziehung aufbauen kann."

15. Mai 2002

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"Der neue Eingang zum Birsigparkplatz wird der Ersatzneubau des Heuwaage-Hochhauses bilden."

bz
vom 26. März 2024
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Wer bildet was oder wen?

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Die Volksstimme greift die OnlineReports-Recherche über das Aus des Textildruck-Unternehmens Permatrend auf.

Im Bericht über "Unruhe am Regioport" bezieht sich Bajour auf die OnlineReports-Ursprungsrecherche aus dem Jahr 2018.

Die Basler Zeitung bezieht sich in einem Artikel über die Kantonsfinanzen im Baselbiet auf OnlineReports.

Die bz verweist in einem Bericht über die Neuausrichtung der Vorfasnachts-Veranstaltung Drummeli auf einen Artikel aus dem OnlineReports-Archiv.

Die Basler Zeitung zitiert in einem Leitartikel über die SVP aus OnlineReports.

Baseljetzt bezieht sich in einer Meldung über den Rücktritt von Ralph Lewin als SGI-Präsident auf OnlineReports.

Die Basler Zeitung nimmt die OnlineReports-Recherche über den blockierten Neubau der BVB-Tramstrecke über das Bruderholz auf.

Die Basler Zeitung und Infosperber übernehmen die OnlineReports-Meldung über den Tod von Linda Stibler.

Die bz zitiert den OnlineReports-Artikel über die Wiedereröffnung des Gefängnisses in Sissach.

Baseljetzt erzählt den OnlineReports-Artikel über die Räppli-Krise nach.

Das Regionaljournal Basel, Baseljetzt, BaZ und 20 Minuten vermelden mit Verweis auf OnlineReports den Baufehler bei der Tramhaltestelle Feldbergstrasse.

Die Basler Zeitung bezieht sich in einem Interview zu den Gemeindefusionen auf OnlineReports.

persoenlich.com und Klein Report vermelden mit Verweis auf OnlineReports die Personalrochade bei Prime News.

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In einem Artikel über die Leerstandsquote bei Büroflächen in Basel nimmt die bz den Bericht von OnlineReports über einen möglichen Umzug der Basler Polizei ins ehemalige Roche-Gebäude an der Viaduktstrasse auf.

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