Werbung
© Foto by Driss Manchoube
Aufruhr in den Banlieues von Mulhouse: Stimmenfutter für Jean-Marie Le Penine Reportage aus Bourtzwiller, dem schwierigsten Quartier von Mulhouse, das Ultrarechten scharenweise Wähler in die Arme treibt Von Beat Stauffer Der französische Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen hat in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ein sensationelles Ergebnis erzielt und Sozialist Lionel Jospin zum Polit-Rentner gemacht. Fast 24 Prozent Stimmenanteil holte sich der 73-jährige Kopf des Front National im Oberelsass. Auch dort profilierte er sich als angeblicher Garant der inneren Sicherheit, dem Wahlkampfthema Nummer Eins. Die oberelsässische Metropole Mulhouse war für Le Pens einfache Rezepte besonders empfänglich: Ihre Vorstadtquartiere sind immer wieder Schauplatz heftiger Gewaltausbrüche. Beat Stauffer hat sich vor den Wahlen dort umgesehen. "Hier in Bourtzwiller kann es jederzeit losgehen. Ein Funke genügt, und das Quartier explodiert." Das sagte mir Jean-Claude Fournier vor beinahe zehn Jahren, als wir uns zum ersten Mal zu einem Gespräch trafen.
***
Was ist los in Mulhouse? Haben die jahrelangen Bemühungen in den schwierigen Quartieren tatsächlich nichts gebracht?
***
Die Vorfälle der letzten Wochen und Monate müssten nun zum Anlass genommen werden, um die Arbeit in diesen schwierigen Quartieren kritisch zu hinterfragen, fährt Jean-Claude Fournier weiter. Einige Fehler der letzten Jahre und Jahrzehnte seien mittlerweile bekannt. Etwa in der Elternarbeit. Man habe die Eltern der Kinder im Quartier letztlich nicht recht ernst genommen - "infantilisiert" habe man sie, statt auf ihre Kompetenzen zu setzen. In den Jugendzentren habe eine wirklich professionelle Betreuung allzu oft gefehlt, und die Jugendlichen seien sich selbst überlassen gewesen. Viele Sozialarbeitende hätten auch zu wenig kritische Distanz zu den Jugendlichen gehabt. Unter dem Zeichen des Antirassismus hätten sie vieles gutgeheissen oder zumindest geduldet, doch kaum je Forderungen an die Jugendlichen gestellt. "Doch in diesem Bereich hat ein deutlich spürbarer Wandel eingesetzt", sagt Fournier. "Heute setzt man vermehrt Grenzen, nur schon um sich selber zu schützen."
***
In Mulhouse gibt es mehrere Problemquartiere. Bourtzwiller gilt als eines der schwierigsten. Das am nördlichen Stadtrand gelegenene Viertel wird mehrheitlich von Menschen bewohnt, deren Wurzeln in Nordafrika liegen. Auch von seiner Lage her wirkt das Quartier wie ein unerwünschtes Anhängsel der Stadt Mulhouse; eingeklemmt zwischen einer Autobahn, einer chemischen Fabrik und dem Fluss Ill.
***
Vieles, was unter der Oberfläche lag, mottete und gärte, scheint bei meiner Erkundung offen zu Tage zu treten. Auch im Collège von Bourtzwiller, so berichtet der Schulleiter Marc Rohmer, kämpfe man seit einigen Monaten mit grossen Schwierigkeiten. Er könne sich die Zuspitzung auch nicht genau erklären; vielleicht habe die Afghanistan-Krise das eh schon vorhandene Misstrauen zwischen "Arabern und Westlern" noch vertieft. Rohmer berichtet von häufigen Vandalenakten; kürzlich wurde gar das Auto eines Lehrers demoliert, während er unterrichtete. Solche Dinge vergifteten das Klima an der Schule, sagt Rohmer. Am schwierigsten seien aber die Beschimpfungen und Beleidigungen, die Lehrerinnen und Lehrer immer wieder einstecken müssten. Viele hielten das schlicht nicht aus und kündigten ihre Stelle.
***
Vor dem Schulhaus umringt uns eine Gruppe Jugendlicher, die selber dieses Collège besuchen. Sie sind neugierig, lachen, scherzen, haben noch offene, unverhärtete Gesichter. Für einen Moment fühle ich mich im Maghreb, in einem Maghreb mit menschlichem, warmherzigem Gesicht. Als meine Kollege Driss Manchoube die Buben fotografieren will, machen sie Faxen. Erstaunt nehmen sie zur Kenntnis, dass Driss selber aus einem arabischen Land stammt. Und dann zeigen sie uns die Videokamera, die in sicherer Höhe den Platz vor dem Collège überwacht, zeigen uns das ausgebrannte Autowrack im nahe gelegene Wäldchen. Grinsen etwas verunsichert: So ist das eben in unserem Quartier. Aber wir haben damit nichts zu tun, wir nicht. Es sind immer die gleichen!
***
Auf der Suche nach Erklärungen für die Sackgasse, in der sich viele "Beurs", die jungen Franzosen mit maghrebinischen Wurzeln, befinden, treffen wir den Anwalt Mohamed Mendi. Sein Büro befindet sich im achten Stock der Tour de l'Europe, dem markanten Hochhaus im Stadtzentrum von Mulhouse. Mendi ist algerischer Abstammung und kennt die Banlieue-Jugendlichen auch aus seiner Arbeit sehr gut.
***
Die verfahrene Situation in den Banlieues lässt sich letztlich nur verstehen, wenn man die französische Kolonialgeschichte in Nordafrika und insbesondere den Algerienkrieg mit in Betracht zieht. Immer mehr Autoren weisen auf diese Dimension des Problems. "Wir kommen in den Banlieues nicht voran", schreibt etwa Christian Delorme, "weil unsere Beziehung zu diesen Bevölkerungsgruppen immer noch kolonialer Natur ist". Aus den "indigènes" seien "immigrés" geworden; geblieben sei der minderwertige Status. Die jungen "Beurs" hätten von ihren Vätern dieses Gefühl sozialer Minderwertigkeit vermittelt bekommen. In der Folge, so schreibt Delorme, der seit über 20 Jahren in Lyons Vorstädten arbeitet, hätten diese eine eigenständige Kultur entwickelt. "Heute fühlen sich viele "Beurs" als Mitglieder einer anderen 'Nation', derjenigen der Cités." Einige, so wäre anzufügen, suchen ihr Heil auch in einem radikalen Islam.
***
Gerne hätten wir Pierre Freyburger getroffen, den "Maire Adjoint" von Mulhouse für Integration und Stadtentwicklung. Doch Freyburger ist für Journalisten im Moment nicht zu sprechen. Insider glauben zu wissen, die markigen Stellungnahmen von Bürgermeister Bockel hätten zu scharfen Spannungen innerhalb der bestehenden Stadtregierung geführt. Viele Beobachter sind davon überzeugt, dass sich Bockel auf diese Weise bewusst bei der Wählerschaft auf der rechten Seite anbiedere.
***
In Bourtzwiller leben auch Menschen, die mit den Verhältnissen kaum mehr zu Rande kommen. Zu ihnen gehören etwa die Mitglieder des Vereins "Bourtzwiller 2000". Wir treffen den Vorstand - drei ältere, rüstige Herren - im Vereinslokal unweit der Kirche St. Antoine. Ein ganzes Dossier hat Vereinspräsident Roger Camps zusammengestellt: die Skandalchronik von Bourtzwiller. Darin ist die Rede von Überfällen, Brandanschlägen, nächtlichen Autorennen und anderen Delikten. Einmal wurde gar ein Feuerwehrmann bei einem Einsatz mit einer Eisenstange angegriffen und lebensgefährlich verletzt.
***
Die Banlieues in Frankreich stellen eine Zeitbombe dar, die jederzeit explodieren kann. Bereits heute stehen ganze Quartiere in Flammen, wenn es bei Polizeieinsätzen zu Verhaftungen oder gar zum Tod junger Gewalttäter kommt. In einzelnen Banlieues in den Grossräumen von Paris und Lyon ergeben sich mitunter bürgerkriegsähnliche Zustände.
***
Von den Politikern erwartet auch Jean-Claude Fournier nicht allzu viel. Doch auf der Suche nach neuen Lösungen in der verfahrenen Situation ist der engagierte Sozialarbeiter auf Charles Rojzman gestossen, einen Autodidakten mit abenteuerlichem Werdegang, der heute in Frankreich als einer der gefragtesten Experten in Sachen Banlieue gilt. Das Problem der Gewalt in den Vorstädten müsse völlig neu angegangen werden, doziert Rojzman. Der erste, wichtigste Schritt sei das Zuhören. "Sowohl die jugendlichen Gewalttäter wie auch die Rassisten haben uns etwas zu sagen", schrieb er bereits vor zehn Jahren. Die Welt bestehe nicht nur aus den Guten - den Antirassisten - und den Bösen - den Rassisten. Das war damals politisch eher unkorrekt. Heute gibt "Sozialtherapeut" Rojzman Workshops in ganz Europa und berät Stadtverwaltungen und Bürgerinitiativen. 23. April 2002
|
20 Jahre "Obstgarten Farnsberg" |
||||
Gefahr eines Absturzes |
Reaktionen |
Hirnschlag mit 47: Die Geschichte von Patrick Moser
Der Baselbieter Lehrer und Journalist hat ein Buch über diesen Einschnitt geschrieben.
Kitas in Baselland: Personal und Eltern wandern in die Stadt ab
Eine Kita-Allianz will verhindern, dass die Situation noch prekärer wird.
Reaktionen |
Permatrend muss nach
über 46 Jahren schliessen
Mit dem Textildruck-Betrieb geht auch ein Stück Baselbieter Unternehmensgeschichte.
Regierung kontert den
Herr-im-Haus-Standpunkt
Peter Knechtli zur Unterschutz-Stellung
der verwüsteten Sissacher Tschudy-Villa.
Tschudy-Villa steht jetzt
unter Denkmalschutz
Der Eigentümer muss das teils abgerissene Gebäude in Sissach wieder aufbauen.
Roger Blum wirft bz
Besprechungs-Boykott vor
Relevante Ereignisse bleiben in Basler
Leitmedien immer häufiger unbeachtet.
Reaktionen |
Bruderholz-Quartier blockiert Neubau der Tramstrecke
Trotz Plangenehmigung kann das Projekt
nicht realisiert werden.
Reaktionen |
Gemeindewahlen Baselland:
Niederlagen für den Freisinn
In Waldenburg verpasst Gemeindepräsidentin Andrea Kaufmann die Wiederwahl.
www.onlinereports.ch - Das unabhängige News-Portal der Nordwestschweiz
© Das Copyright sämtlicher auf dem Portal www.onlinereports.ch enthaltenen multimedialer Inhalte (Text, Bild, Audio, Video) liegt bei der OnlineReports GmbH sowie bei den Autorinnen und Autoren. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Veröffentlichungen jeder Art nur gegen Honorar und mit schriftlichem Einverständnis der Redaktion von OnlineReports.ch.
Die Redaktion bedingt hiermit jegliche Verantwortung und Haftung für Werbe-Banner oder andere Beiträge von Dritten oder einzelnen Autoren ab, die eigene Beiträge, wenn auch mit Zustimmung der Redaktion, auf der Plattform von OnlineReports publizieren. OnlineReports bemüht sich nach bestem Wissen und Gewissen darum, Urheber- und andere Rechte von Dritten durch ihre Publikationen nicht zu verletzen. Wer dennoch eine Verletzung derartiger Rechte auf OnlineReports feststellt, wird gebeten, die Redaktion umgehend zu informieren, damit die beanstandeten Inhalte unverzüglich entfernt werden können.
Auf dieser Website gibt es Links zu Websites Dritter. Sobald Sie diese anklicken, verlassen Sie unseren Einflussbereich. Für fremde Websites, zu welchen von dieser Website aus ein Link besteht, übernimmt OnlineReports keine inhaltliche oder rechtliche Verantwortung. Dasselbe gilt für Websites Dritter, die auf OnlineReports verlinken.