© Fotos by Gerd Krebs und Peter Knechtli, OnlineReports.ch
"Sie wollten etwas Schönes": FKK-Pioniere Elli, Gerd und Adolf Krebs
Wie ein Elektriker aus dem Ruhrgebiet die FKK nach Korsika brachte
Adolf Krebs und seine Familie bauten bei Porto Vecchio ein Naturisten-Paradies und starben auf der Mittelmeer-Insel
Von Peter Knechtli
Auf Korsika gibt es mehrere Nacktbade-Strände. Eine Pionierrolle bei deren Entwicklung nahm eine Familie aus dem Ruhrgebiet ein: Sie schuf Ende der sechziger Jahre unter anderem La Chiappa – das erste behördlich bewilligte FKK-Gelände der Sonneninsel. OnlineReports traf den Sohn des Gründerpaars, den letzten lebenden Zeit-Zeugen.
Nach dunklen Nächten, an denen vom Himmel Milchstrasse und Sternschnuppen grüssten, scheint jetzt der zunehmende Mond durch Wacholderbäume und Korkeichen. Es ist fortgeschrittener Abend.
Unten auf dem ungeteerten, nur schwach beleuchteten Weg rückt eine ältere männliche Gestalt ins Blickfeld, längere schneeweiss gelockte Haare, vermutlich randlose Brille, Künstlertyp. Während aus dem fernen Restaurant noch leise Musikfetzen einer Darbietung in die Nachtruhe über dem ansteigenden Gelände streichen, kehrt der Mann, gemächlich gehend und die Hände auf dem Rücken verschränkt, nach einigen Minuten wieder zurück. Vermutlich ein kleiner Nachtspaziergang. Der Mann ist nackt. Einzig eine Fussbedeckung schützt ihn vor spitzem Gestein.
Der einsame Passant ist Gast im südkorsischen "Village des vacances naturiste" in La Chiappa, in einem Naturschutzgebiet auf einer Halbinsel am südlichen Ausgang des Golfes von Porto Vecchio gelegen. Um eine knapp einen Kilometer lange, teils felsige, teils sandige Bucht erstreckt sich über eine Fläche von 65 Hektaren das bekannteste FKK-Gelände der "Ile de beauté".
Ihren zwar elegant klingenden, aber nicht gerade schmeichelhaften und dennoch treffenden Namen (zu Deutsch: Arschbacke) verdankt die Bucht dem Leuchtturm, der wie ein Wahrzeichen am höchsten Ort einer Erhebung über ihr trohnt. Auf der einen Hälfte des Geländes tummeln sich die Campierer, auf der andern bieten in leicht geschwungenen Reihen angeordnete, meist einfache Bungalows etwas mehr Komfort, fast perfekte Ruhe und Schutz, wenn etwa ein heftiger Sturm oder ein seltener Sommer-Platzregen das Sonnengesicht des Nackten-Refugiums trüben. Gäste sind vor allem Deutsche, Schweizer, Holländer, Engländer und Franzosen.
Von der Kneipe in Walsum ...
Unter langjährigen Chiappa-Kunden kursieren seit jeher teils abenteuerliche Geschichten, Gerüchte und Episoden um die Gründung dieses Naturisten-Camps. Einige der Stories mögen stimmen, andere sind zumindest gut erfunden.
Lediglich ein einziger Zeitzeuge lebt noch, der es weiss, weil er selbst mit dabei war: Gerd Krebs, der heute 66-jährige Sohn des Chiappa-Gründers Adolf Krebs. Barfuss bis zum Hals, wie es sich gehört, treffen wir ihn ("ich bin der Gerd", Bild rechts) und seine zweite Ehefrau ("ich bin die Inge", Bild links) zum ausführlichen Gespräch auf der Terrasse seines Chiappa-Bungalows, das einen traumhaften Blick über die Bucht auf die vorgelagerten Inseln und weit in der Ferne auf die Umrisse von Sardiniens Bergen bietet. Man duzt sich, wie unter Naturisten üblich, sogleich.
Dieses Dorado der textilfreien Sonnenverrückten mitten in himmlisch würzig riechender Umgebung hat seinen Ursprung im deutschen Ruhrgebiet, wo Kohlebergwerke den Menschen Verdienst und schwarze Lungen bescherten. Das Ehepaar Adolf, gelernter Elektriker, und Elisabeth "Elli" Krebs, im Weltkrieg ausgebildete Krankenschwester, betrieb Mitte letzten Jahrhunderts in der Stadt Walsum bei Duisburg die Gaststätte "zum Anker".
... an die Ostküste Korsikas
In der Kneipe sorgten Schachtbau und ein Zellstoffwerk für Betrieb – bis zu ihrem Niedergang, der auch die Gastronomie traf. Mutter Elli war zu allem sehr krank, sie litt an Atemwegserkrankungen und Osteoporose, die medizinisch behandelt werden mussten. Während ihr Mann Adolf den "Anker" in Betrieb hielt, fuhr sie Anfang der sechziger Jahre mit Sohn Gerd und vier weiteren Bekannten, darunter der Steuerberater, nach Nizza in den Urlaub. "Doch dort gefielen uns der Strand und der Campingplatz nicht", so dass sich die Reisenden kurzerhand entschlossen, weiter in den Süden nach Korsika überzusetzen. Per Kran wurde der schwarze Mercedes 180 ins Schiff gehoben zur Fahrt durchs Mittelmeer. Sie strandeten nach der Überfahrt auf dem Zeltplatz "Domaine d'Anghione" in Castellare di Carsinca.
Der Steuerberater wusste, dass das Ehepaar Krebs im Ruhrgebiet einem FKK-Verein angehörte. Und so brachte er eines Abends beim Nachtessen die Idee ins Spiel. Es gebe da zwischen dem Leuchtturm von Alistro und Bravone, einige Kilometer nördlich von Aleria, ein bescheidenes FKK-Gelände namens "Tropica", das erste seiner Art auf Korsika. Die bräuchten "jemanden, der ein Restaurant und einen Lebensmittelladen baut und auch betreibt", erinnert sich Gerd Krebs an die Worte des Fiskalexperten. Der nämlich kannte den "Tropica"-Besitzer, einen Herrn namens Klapperstück aus Frankfurt.
Kosika wirkte heilend
Nach einer spontanen Inspizierung war Mutter Krebs, die im Klima von Korsika laut Sohn Gerd "keine einzige Pille" gegen ihre gesundheitlichen Beschwerden brauchte, begeistert vom mit riesigen Korkeichen bewachsenen Gelände hinter den Dünen. Als sich später auch Vater Krebs vom Gelände überzeugt hatte, "ging alles ratz-fatz" (so Gerd). Innerhalb von drei Monaten wurde die Gaststätte in Walsum verkauft und an der korsischen Ostküste eine neue Existenz aufgebaut. Ab Februar 1962 wurde im "Tropica" ein Laden für den Alltagsgebrauch und ein Restaurant gebaut. Für Adolf und Elli Krebs waren Nackte nichts Neues: Sie waren schon in Duisburg eingefleischte FKK-ler mit Vereins-Ausweis.
Mitte der sechziger Jahre trat ein Korse namens Agostini an die Familie Krebs heran mit der Bitte, eine ähnliche Infrastruktur auch auf seinem FKK-Gelände "Villata" nahe dem Golf von Pinarellu zu betreiben. Gerd Krebs, gelernter Koch, wurde Leiter und Wirt der Gaststätte in "Villata", während seine Mutter das Geschäft führte und sein Vater dazu noch die Geschäfte im "Tropica" leitete.
Mit Sportflugzeug auf Standortsuche
Da kam der Tag, an der die arbeitsame deutsche Familie Bilanz zog, wie sich Gerd erinnert: "Weshalb müssen wir immer für die Andern das Geschäft machen? Warum machen wir es nicht selbst?" Die Eltern charterten ein kleines Sportflugzeug, "um zu schauen, wo sie was machen könnten". Ihnen stach eine perfekt nach Süden ausgerichtete und etwas abgelegene Bucht am Fuss des Leuchtturms "Chiappa" ins Auge. Das teils sumpfige Gelände war von Steinmäuerchen, Macchia und Weiden besetzt, wo Schäfer ihre Ziegen hielten. Hier sollte das Naturisten-Dörfchen La Chiappa entstehen – das erste auf der Insel, das eine offizielle Bewilligung durch den Präfekten von Ajaccio erhielt. Die Korsen, weiss Gerd Krebs, tolerieren FKK, aber sie praktizieren es nicht."
Das Land gehörte Napoléon Grimaldi ("ein stolzer Korse"), der auch Abgeordneter war. Mit ihm wurden Krebsens bald handelseinig. Vater Krebs kümmerte sich um den Kontakt mit Ämtern und, zusammen mit einem Architekten, um die Planung des Geländes, wobei der damalige Bürgermeister von Porto Vecchio, Roccaserra, "uns alles möglich machte, was möglich war". Er dürfte rasch erkannt haben, dass die ärmliche Region, in der die Bewohner noch mit Eselskarren aus den Bergen ins burgähnliche Golf-Städtchen fuhren, vom Chiappa-Projekt würde profitieren können. Mutter Krebs schloss Arbeitsverträge mit 50 in Porto Vecchio angeheuerten Marokkanern ab, die beim Aufbau Hand anlegten.
Im Niemandsland entstand ein Camp
1967 wurde der auf 25 Jahre ausgelegte Pachtvertrag unterschrieben, im April 1968 wurde das Camp – FKK-Ausweis erforderlich – für die ersten Gäste eröffnet. Zuvor aber mussten der felsige Strand planiert, die Macchia gerodet, Sumpfgebiete trockengelegt, neun mit Wünschelruten geortete Brunnen gebohrt, Reservoirs gebaut, und die Wasser- und Stromversorgung sichergestellt werden.
In der ersten Bauetappe wurden zehn einfache A-Typ-Bungalows ohne Küche, Wasser und Toiletten (aber dafür mit Meersicht!), und 25 fixfertige Camping-Einheiten erstellt – auf Betonplatten montierte Zelte, die damals schon Kühlschränke, Licht und einen Kleiderschrank, aber keinen Wasseranschluss enthielten. Es kamen hinzu: 65 B-Bungalows mit Toilette, Dusche und WC und voll eingerichteter Küche, Reception, Wäscherei, Lebensmittelladen, sanitäre Anlagen, Friseur, Boutique, Restaurant und Strandbar und Tennisplätze, die kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Wo noch kurz zuvor Macchia wucherte, sprossen bald Pfeffer-, Eukalyptus- und Olivenbäume, Myrthe, Wacholder, Korkeichen, Baumbrombeeren, Rosmarin und Lorbeer.
Der nordrhein-westfälische Gerd, aus dem längst der Gitanes rauchende "Gérard" geworden war, wirkte als Chef und Antreiber auf den Bauplätzen. Doch was trieb seine Eltern aus der Stadt am Niederrhein an, als Pächterin mit nicht wenig Risiko in Südkorsika zu investieren? Es war eine Zeit, in der Business-Plan noch ein Fremdwort war. "Meine Eltern wollten ein schönes Gelände und ein Paradies schaffen. Sie haben nicht im Entferntesten daran gedacht, die grosse Kohle zu machen", erinnert sich Gerd Krebs – im Gegenteil: "Wir haben draufgezahlt." Wenn Erträge erwirtschaftet wurden, wurden sie umgehend wieder in die Anlage investiert.
Eine familiäre, naturliebende Kultur
Umso wichtiger war den Betreibern "eine familiäre Kultur": Die Gäste wurden abgeholt und von Elli Krebs persönlich begrüsst, und in die Bungalows gebracht, zu ihren Geburtstagen erhielten sie ein Gratulationskärtchen, im Gelände wurden Kindergeburtstage, aber auch grosse Fêten gefeiert, sagt Gerd Krebs: "Es war einfach, aber funktional und schön."
Die temporären Halbinsulaner verstanden sich als eine undogmatische, naturliebende und respektvolle Gemeinschaft, die das Nichts am Leib verband und denen auch die Nachbarn nicht egal waren. Dem letzten verstorbenen Leuchtturmwärter verhalf Gerd Krebs beispielsweise zu einem anständigen Grab im nahegelegenen Dörfchen Piccovagia.
Noch bis in die neunziger Jahre pflegten und wässerten marokkanische Gärtnertrupps das Blütenmeer von Hibiskus, Bougainville, Trompetenwinden und Tamarisken. Abends sorgten Gäste unter kundiger Anleitung – etwa durch einen senegalesischen Tänzer – selbst für Unterhaltung im Halbrund des von Palmen flankierten kleinen Theaters. Die Sketches gerieten zeitweise etwas frivol.
Geld und Baumaterial gingen aus
Zwei Jahre nach der Eröffnung ging den FKK-Pionieren das Geld aus. Den hohen Ausgaben standen noch zu wenig Kunden gegenüber, obschon damals schon Gäste aus 19 Nationen nachgewiesen werden konnten. Für seine solide Arbeit bekannt, erhielt Adolf Krebs von einer französischen Bank "problemlos einen Hotelkredit".
Als Reiseveranstalter im Naturisten-Segment eine Marktnische entdeckten, mussten Mitte der siebziger Jahre kurzfristig "hundert zusätzliche Bungalows auf einen Schlag" gebaut werden. Dies führte zu einer derartigen Nachfrage an Baumaterial, "dass es auf der ganzen Insel keine Beton-Hohlblocksteine mehr gab". Folge: Wiederum Geldknappheit, das Finanzamt stundete Steuern.
So, wie Gerd Krebs schildert, waren die korsischen Behörden – streng darauf bedacht, weder Grund und Boden noch Immobilien an ausländische Investoren zu verlieren – "immer kooperativ". Mit gewaltbereiten korsischen Separatisten habe seine Familie "nie zu tun gehabt". Grund: "Wir stellten nie Ausländer an und brachten das Geld nicht ins Ausland. Ausserdem waren unsere Lieferanten Korsen."
Bomben gegen Reception und Strandbar
1976, acht Jahre nach der Eröffnung, ging die Ära Krebs in La Chiappa zu Ende. Die mühsame Aufbauarbeit hatte bei Adolf Krebs in Form von zwei Herzinfarkten ihren Tribut gezollt. Es folgten neue Geschäftsführer schweizerischer, deutscher und französischer Herkunft mit Namen Bläss, Cadalbert, Kündig und Crivello, die mit Gästen teils professionelle Unterhaltungsprogramme entwickelten, sich aber nicht alle derselben Sympathie der Einheimischen sicher sein durften wie die Familie Krebs.
Einmal wurde die Reception, ein andermal die "Bar Plage" weggebombt. Im August 1980 brannte der Campingbereich vollständig nieder. In späteren Jahren trieb eine Feuerwalze im ablandigen Sturmwind auf La Chiappa zu; nur wenige hundert Meter vor dem Gelände-Eingang kam sie zum Stillstand. Wer konnte, floh. Offen bleibt, ob das Feuer aus Fahrlässigkeit ausbrach oder als Warnung bewusst gelegt wurde.
Als 1998 mit der Landbesitzer-Familie Grimaldi die Leitung des Camps in korsische Hände überging, kehrten Ruhe und Sicherheit ein. Doch auch in anderer Weise hielt Veränderung Einzug. Der Arztbesuch ist eingestellt, kleinste Dienstleistungen wie Tennisplatz-Benützung oder Wlan sind kostenpflichtig. Aus einigen vermoderten Tennisplätzen wachsen stachelige Stauden. Die Kosteneinsparung durch Personalabbau macht sich dadurch bemerkbar, dass mit den marokkanischen Pflege-Gärtnern auch die floristische Sinnlichkeit verschwunden ist.
Viele Stammgäste aus dem Festland
Verschwunden ist die persönliche Begrüssung von Stammkunden ebenso wie das familiäre Bestreben, die Gäste in Unterhaltungs-Happenings einzubinden. Das Personal an der Reception ist freundlich, funktionell und geschäftsbewusst, aber ohne persönlichen Anspruch. Das Gelände bleibt mehr oder weniger sich selbst überlassen. Wenn vor den Häuschen dennoch Kakteen oder Oleander blühen, ist häufig die liebevolle Hand von Kunden im Spiel.
Zu allem wurden die Palmen, wie auch in Südfrankreich, in ganz Korsika von einem tödlichen Schädling befallen. Zwar wurden in ein zweites Süsswasser-Bassin ("Badenzug (sic!) ist hier untersagt") erhebliche Investitionen getätigt, doch die Bungalows sind in einem teils ungepflegten Zustand. Die Dachbalken hätten längst einen Neuanstrich verdient, die Mauern zeigen Risse.
Dennoch sind auf dem Parkplatz vor der Reception Autos mit Kontrollschildern AG, VD, BL, BS, BE, ZH und so weiter auszumachen, denen die einmalige, natürlich erhaltene Landschaft mit der vorgelagerten Inselgruppe und die bezaubernd würzige Luft die heute relativ hohen Bungalow-Preise wert sind. Stammgäste, die es immer noch in beträchtlicher Zahl und zunehmendem Alter gibt, gehen davon aus, dass das Naturisten-Camp La Chiappa der korsischen Besitzerin schönes Geld abwirft.
Während Gerd und Inge Krebs – in Leverkusen als Mitglieder der "Prinzengarde" begeisterte Angehörige des Karnevalsadels – den Sommer jeweils immer noch in einem gemieteten Chiappa-Domizil ihrer südlichen Heimat verbringen, lebten die Eltern Adolf und Elli bis zu ihrem Tod vor wenigen Jahren auf dem Gelände, das für sie das Paradies war. Hier fanden sie auch ihre letzte Ruhe.
Angestellte, die sie kannten, sprechen respektvoll über die arbeitsamen und zielstrebigen Gründer aus dem Ruhrgebiet.
2. August 2012