Eisberge: Mit voller Kraft zurück!
In den Sommerferien habe ich wieder einmal eine Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee genossen. Wohlgemerkt: nicht mit irgendeinem Schiff, sondern mit einem der vier nostalgischen Raddampfer, die zurzeit den wunderschönen und immer wieder abwechslungsreichen See durchpflügen. (Der fünfte, die "Unterwalden", wird noch bis im Frühjahr 2011 einer Generalsanierung unterzogen.)
Von vorne oder hinten betrachtet wirken sie zwar behäbig und erinnern mit ihren seitlichen Schaufelrädern an trächtige Elefanten oder (See-)Kühe. Aber in der Seitenansicht kann es kein modernes Motorschiff an Schönheit und Eleganz mit diesen schwimmenden Denkmälern aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufnehmen.
Im Innern verbreiten Holz, teilweise reich mit Intarsien, Schnitzereien und Malereien verziert, und mit Samt überzogene Polster viel Behaglichkeit und Charme. Und immer wieder fühle ich mich gleichsam magisch angezogen von der viereckigen Öffnung im Hauptdeck, die den Blick auf einen Teil der Dampfmaschine freigibt.
Ich kann mich an den schmucken Ölkännchen, dem vielen glänzenden Stahl, der Harmonie und geballten Kraft der weitausladenden Bewegungen und dem schnellen Drehen der Schaufelräder gar nicht sattsehen! Da kann man zusehen und erleben, wie die Energie des Dampfes in Bewegung umgewandelt und über die Kurbelwelle auf die beiden mächtigen Schaufelräder übertragen wird, die durch Fenster zu beiden Seiten ebenfalls sichtbar sind.
Oben, auf der Kommandobrücke, übermittelt der Kapitän mit dem Maschinentelegrafen dem Maschinisten die Kommandos. Unten, im Bauch des Schiffes, liest der Maschinist den jeweiligen Befehl ab und quittiert ihn, indem er an seinem Telegrafen den Hebel an die gleiche Stelle legt; dann führt er den Befehl aus. Der Kapitän hält das Schiff mit dem Steuerruder auf Kurs.
Der Kapitän muss zum richtigen Zeitpunkt das richtige Kommando erteilen, und der Maschinist muss es mit höchster Präzision ausführen - ohne dass er selbst etwas sieht. Er ist ganz auf die Augen des Kapitäns angewiesen. Die Lenkung eines Dampfers erfordert also von beiden volle Konzentration und viel Fingerspitzengefühl. Ein Sprachrohr aus stets auf Hochglanz poliertem Messing dient dazu, allfällige Missverständnisse zu verhindern.
Zwar hat auch auf den prächtigen alten Raddampfern inzwischen die Moderne in Form von Radar, GPS und Hydraulik Einzug gehalten: Der Kapitän sieht auf einem Bildschirm, wie er die Schiffsstation anlaufen muss. Und statt des grossen, kunstvoll gedrechselten Steuerrades dreht er nur noch ein unscheinbares kleines Handrad.
All dem technischen Fortschritt zum Trotz haben auch noch so moderne Schiffe jedoch keine Bremsen. Diese Tatsache wurde schon der "Titanic" zum Verhängnis. Damit ein vorwärts fahrendes Schiff seine Fahrt verlangsamt und schliesslich ganz stillsteht, werden die Maschinen auf "zurück" gestellt, die Schaufelräder respektive Schrauben drehen rückwärts. Doch der "Bremsweg" ist lang.
Die Eisberge, die die Welt im 21. Jahrhundert bedrohen, sind zwar erkannt. Aber wo ist der beherzte Kapitän, der sich nicht auf zaghafte Kurskorrekturen beschränkt, sondern das Ruder energisch herumreisst oder den Rückwärtsgang einlegt, damit das Schiff nicht volle Kraft voraus in die Katastrophe fährt? Nicht nur Schiffe haben einen langen "Bremsweg" ...
7. September 2009