Mein Freund, der Baum
Wie alt er genau ist, weiss ich nicht. Mindestens 60 Jahre dürfte es allerdings schon her sein, seit mein Grossvater, lange bevor ich das Licht der Welt erblickte, das herzige kleine Rottännchen in seinem Garten eingegraben hat. Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, war aus dem Tännchen eine mächtige Tanne geworden.
Mein Grossvater ist vor 32 Jahren gestorben. Inzwischen hat sein Haus samt Garten den Besitzer gewechselt. Der neue Besitzer, so habe ich mir sagen lassen, hat eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, für den Fall, dass die Fichte auf ein Haus in der Nachbarschaft stürzt.
"Lothar" hat sie standgehalten. Das war Weihnachten 1999. Seitdem ist kein so heftiger Orkan mehr über Basel gefegt. Aber bei jedem Frühlings- oder Herbststurm rauscht es ganz schön - nicht nur im Tannenwald, sondern auch in der Rottanne. Und in der Nachbarschaft fragt man sich, ob sie nicht doch am Ende umfallen könnte.
Im Frühling und Sommer sind jeweils Vögel zu beobachten: Den Buntspecht hört man meist nur, wenn er mit seinem Schnabel unter der Rinde nach Futter sucht. Eichelhäher, Krähen und Elstern wiederum streiten sich lautstark um den besten Platz. Kohl- und Blaumeisen, Hausrotschwänzen, Rotkehlchen, Spatzen und einige andere finden in seinen Ästen Zuflucht vor den vielen Katzen im Quartier. Und wie oft hat mich nicht schon an einem lauen Sommerabend der Gesang einer Amsel zuoberst auf dem Baumwipfel oder einer dem Auge verborgenen Mönchsgrasmücke erfreut! Ab und zu verirrt sich sogar ein Eichhörnchen in unser Geviert, das sich an den Samen der Tannzapfen gütlich tut.
Aber der alte Baum hat im Quartier nicht nur Freunde: Einigen Nachbarn ist die Fichte ein Dorn im Auge: Sie beklagen sich darüber, dass sie kein Sonnenlicht durchlässt und unter ihren ausladenden Ästen kein Halm mehr wächst. Als ich einem von ihnen erwiderte, dass ich nicht tatenlos zusehen werde, wenn jemand die Axt an den Baum meines Grossvaters anlegen sollte, erntete ich Unverständnis – schliesslich sei mein Grossvater schon lange tot, und nur der Umstand, dass er den Baum einst gepflanzt habe, sei kein Grund, ihn unter Denkmalschutz zu stellen.
Stimmt. Aber zum Glück haben wir in Basel ein Baumgesetz, das alte Bäume schützt. Diese Fichte ist so alt und so gross, dass der heutige Besitzer, der zugegebenermassen dazu kam, wie die Jungfrau zum Kind, eine Bewilligung einholen müsste, um sie zu fällen. Und die würde er wohl nur erhalten, wenn die Rottanne eine akute Gefährdung darstellte.
Als am letzten Freitag drei Männer in Kletterausrüstung inklusive Helm, Karabinerhaken und Seilen sich anschickten, die Fichte meines Grossvaters zu besteigen, blieb mir daher fast das Herz stehen: Die werden doch nicht!? Was tun? Um mich auf dem Baum anzuketten, war es jetzt zu spät.
"Baumpfleger" stand auf ihrem Auto. Die Männer waren offenbar in friedlicher Absicht gekommen. Auf den Zustand des Baumes angesprochen, erwiderte mir einer der Baumpfleger, der Fichte gehe es gut. Er und seine Kollegen hätten nur den Auftrag, einen Teil der Efeuranken zu entfernen, die untersten Äste abzuschneiden und weiter oben etwas auszulichten. Nachbarn hätten sich wohl über zu viel Schatten beschwert.
Mein Freund, der Baum lebt also noch, und es geht ihm sogar gut. Das ist doch in Zeiten der täglichen Katastrophenmeldungen endlich einmal eine gute Nachricht. Und obendrein wage ich noch die Behauptung, dass es nicht viele Menschen geben dürfte, die im Sommer in Basel ein Glas kühlen Weisswein oder ein Feierabendbier im Schatten einer Rigi-Tanne trinken können: Mein Grossvater hat das Bäumchen nämlich seinerzeit auf dem Rigi ausgegraben!
30. November 2009