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Herr Oberst mit geschlossenem Visier
Wie der Gemeindeammann von Wittnau AG seine politische und berufliche Karriere vernichtete
Von Peter Knechtli
Jahrelang belästigte und beleidigte der höchste politische Repräsentant des Fricktaler Dorfes Wittnau Bürgerinnen und Bürger mit anonymen Briefen. Damit brachte sich Gemeindeammann Peter Meier um Amt und Würde.
Als Kurt Bischofsberger (60), früherer Ammann der Oberfricktaler 1'100-Seelen-Gemeinde Wittnau, kürzlich die Dorfbeiz "Krone" betrat, trug er brisante Post auf sich: Anonyme persönlichkeitsverletzende Briefe, die ihn mit der Schlinge um den Hals, Hakenkreuz und Prädikaten wie "SP-Löli", "Schleimscheisser" oder "Dorlips" (Fricktaler Version für Hohlkopf) darstellen.
Die westlich von Frick am Ende eines Seitentals eingebettete Land-Idylle war seit mehr als sieben Jahren Tatort eines unbekannten Agitators, der systematisch Zwietracht säte. Anonyme Post aus dem Hinterhalt erhielten auch weitere Bürger der Gemeinde, manchmal auch ihre Arbeitgeber oder gar der Wittnauer Gemeinderat - bis die belästigten Dorfbewohner den Absender entlarvten: Peter Meier (58), seit über vier Jahren Wittnauer Gemeindeammann, hat laut Angaben der Betroffenen am 7. August "ohne Wenn und Aber" die Urheberschaft von 14 anonymen Briefen gestanden. Einem perplexen "Krone"-Gast entfuhr, was viele im Fricktal nur denken: "Das kann ich einfach nicht glauben."
Als schützenfreundlicher Ehrenmann gewält
Meier, gewählt auch dank dem Versprechen, den örtlichen Scheibenstand zu erneuern, trug zum Zeitpunkt seiner Kür alle Insignien eines Ehrenmannes: Administrativer Berufs-Militär im Range eines Obersten, langjähriger Schützenfunktionär, Ex-Präsident der örtlichen CVP und katholischer Kirchengutsverwalter. Mit seinem krawattierten öffentlichen Auftreten erweckte er in der Dorfbevölkerung den Eindruck von "Rangeshöhe". Zu seiner Wahl hatten ihn "Wählerinnen und Wähler aller Kreise" als "verantwortungsbewussten Bürger mit beherzten Ideen" empfohlen.
Weniger beherzt waren die Taten des Christdemokraten: Schon damals behelligte der Offizier und aktive Kirchgänger unliebsame Mitbürger und Parteikollegen mit geschlossenem Visier - lange Zeit unerkannt.
Der Trick mit dem Pappbecher
Erst im Verlauf der Jahre richtete sich der Verdacht immer stärker auf den höchsten Repräsentanten der Gemeinde. Erst ergaben gentechnische DNA-Speichelproben an den Briefumschlägen, dass es sich beim Absender um ein und diesselbe Person männlichen Geschlechts handeln musste. Um den schlüssigen Beweis führen zu können, beschafften sich die Betroffenen den Speichel aus dem Mund von Ammann Meier durch einen Trick: CVP-Gemeinderat Peter Liechti (43), der ebenfalls zur Zielgruppe seines Parteikollegen gehörte, liess Meier an einer Gemeinderatssitzung Mineralwasser aus einem Pappbecher trinken, den er anschliessend als Corpus delicti diskret an sich nahm und dem Rechtsmedizinischen Institut der Universität Bern zur Begutachtung zustellen liess.
Nur jede 98millionste Person
Der forensische Vergleich von Briefmarken- und Trinkbecherspeichel liess keinen Zweifel offen: Die vorgefundene DNA-Merkmalkonstellation ist laut den Gutachtern so selten, dass sie unter unverwandten Personen der Schweizer Bevölkerung "lediglich in einer von etwa 98 Millionen Personen" vorkomme.
Die Ueberführung des Gemeindeammanns durch seine Bürger schlug im Fricktal wie eine Bombe ein. Als akute Publizität drohte, ergriff Meier die Flucht nach vorn: Er trat mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurück - aus "gesundheitlichen Gründen" als Folge der "starken Zusatzbelastung" seines politischen Amtes.
Oppositioneller Hoffnungsträger
Mit seinem unehrenhaften Abgang nimmt nicht nur die politische, sondern auch die berufliche Karriere eines Mannes ein Ende, der mit Elan den politischen Einstieg suchte. Bevor Meier 1981 nach Wittnau zog, kandidierte er als Mitglied der CVP-Minderheit und oppositioneller "Hoffnungsträger" in der SVP-starken Unterfricktaler Gemeinde Magden für den Gemeinderat, wie sich der dortige alt Gemeindeammann und SVP-Kantonalpräsident Ernst Weiss erinnert. Doch Meier blieb chancenlos.
Als der leidenschaftliche Schütze 1994 in Wittnau sein Amt als Gemeindeammann antrat, genoss er mit seinem prägnanten Auftreten mehrheitlich Reputation. Einem Gemeinderatskollegen, der früher von ihm mit hinterhältiger Post eingedeckt worden war, erschien er zunächst als "aufrichtiger, ehrlicher Mensch". Doch immer entschlossener bildete Meier im fünfköpfigen Gemeinderat mit zwei Kollegen ein Mehrheits-Päckli: Vizeammann Jürg Müller und Gemeinderat Peter Liechti fühlten sich richtiggehend "hinausgeekelt" und warfen schliesslich das Handtuch.
Entweder Freund oder Feind
Von Meiers gouvernementaler Souveränität war nichts mehr zu spüren. Kritikern erschien er als "äusserst autoritär, rechthaberisch und ehrgeizig", er habe "Differenzen in Sachfragen immer als persönliche Angriffe empfunden" und nur noch "zwischen Freund und Feind unterschieden". Bittere Erinnerungen an die Zeit vor Meiers Amtsantritt wurden wach, als er persönliche Differenzen mit seinem Nachbarn in die Gemeindeversammlung zerrte. Original-Ton Meier: "Vor seinem Haus steht wochen- oder monatelang kein Kehrichtsack. Was aber täglich, auch nachts, zum Himmel stinkt, kann man sich nicht vorstellen."
Unter Meiers Kommando verdüsterte sich zunehmend auch Stimmung auf der Gemeindekanzlei: Die Verwaltungsangestellte, Tochter des von Meier ungeliebten Nachbarn, wurde per Pensumskürzung wegbefördert. Die Finanzverwalterin, während ihrer Kündigungsfrist freigestellt ("es war fürchterlich"), kämpft jetzt vor Verwaltungsgericht für Arbeitszeugnis, Lohn und gegen die fristlose Freistellung. Ihre neuen Arbeitgeber - Gemeinderäte zweier kleiner Aargauer Kommunen - erhielten noch dieses Frühjahr anonyme Flugblätter. Als Urheber unter dringendem Verdacht steht Peter Meier.
Als Kanzlei-Oberst nicht mehr tragbar
Der Dorf-Skandal bringt dem Anonymus jetzt auch beruflich Ungemach: Als Dienstchef im Büro der Felddivision 5 im Range eines Obersten dürfte er kaum noch tragbar sein. In dieser Funktion befasst er sich mit Personen-Dossiers, aber auch mit organisatorischen und administrativen Belangen, steht mit Offizieren in direktem Kontakt und führt Verhandlungen mit Gemeinden. "Beruflich" kann Divisionär Max Riner, Kommandant der Felddivision 5, seinem Obersten "nichts vorwerfen". Laut Hansruedi Moser, dem Sprecher des Eidgenössischen Departementes für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), sei aber "klar, dass die Frage der Weiterbeschäftigung von Oberst Meier allein schon aus psychologischen Gründen in Kürze diskutiert werden muss".
Am 17. August liess sich Meier krank schreiben. Zu den Vorwürfen schwieg er bis anhin.
Zahlung an Amnesty International
Rachestimmung ist im Dorf trotz des Agitations-Skandals nicht auszumachen. "Wir Wittnauer haben eine gewisse Grosszügigkeit diesbezüglich", meint ein Betroffener. Vielmehr geben die Opfer ihrem Täter vor der Einleitung straf- und zivilrechtlicher Schritte wegen Ehrverletzung, Schadenersatz und Genugtuung noch eine Chance zu einer aussergerichtlichen Lösung - unter anderem durch öffentliche Entschuldigung und Zahlung einer Summe von 5'000 Franken an Amnesty International. Denn nur eines wollen die Betroffenen verhindern: "Dass wir Opfer zu Tätern gemacht werden."
29. August 1998
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