Die Tücken eines Kreisels
Kreisel sind praktisch: Sie haben gegenüber herkömmlichen Kreuzungen den Vorteil, dass, wer die richtige Abzweigung verpasst hat, eine Ehrenrunde drehen kann.
Nach der richtigen Ausfahrt hatte ich an jenem Abend – es war stockdunkel, und dichter Nebel behinderte die Sicht – vergeblich gesucht. Kein Wunder – sie war gesperrt wegen Belagsarbeiten, wie ich später erfahren sollte. Und so drehte ich ein paar Runden, bis ich vollends die Orientierung verloren hatte, und fasste schliesslich den Entschluss, den Kreisel bei der nächsten Ausfahrt zu verlassen.
Ich landete auf einer engen Fahrbahn, die sich auf einer Art Rampe in die Tiefe schraubte um schliesslich im Nichts zu enden. Beziehungsweise in dem in tiefem Nachtschlaf befindlichen Abfertigungsareal für LKWs Richtung Deutschland, wie ich einem Schild entnehmen konnte.
Und von dort gab es kein Vor und kein Zurück mehr. Vor mir eine Schranke, die tagsüber den abgefertigten Camions den Weg frei gibt auf die Autobahn Richtung Deutschland. Sie war geschlossen und verriegelt – logisch zu dieser späten Stunde. Und hinter mir: Die Zufahrt, durch die ich hergekommen war, mit dem unübersehbaren Schild "weisser Querstrich im roten Feld". Auf der anderen, für mich unerreichbaren Seite der durch einem Zaun abgegrenzten Strasse – was heisst Strasse?, es war eine ausgewachsene Autobahn – sah ich eine Tankstelle.
Es streifte mich kurz die Versuchung, das Verbot zu missachten, und die kurvige Rampe trotz Verbot wieder hoch zu fahren, aber die Vorstellung, was für Riesenbrummer mir da entgegenkommen könnten, hielt mich davon ab. Jetzt blieben noch zwei Möglichkeiten: Die Nacht auf dem Abfertigungsareal im Auto zu verbringen oder die Polizei zu rufen.
Ich wählte Letzteres und versuchte, so gut es ging, den Weg zu mir zu beschreiben. Ich solle bleiben wo ich bin, es würde ein Polizeifahrzeug kommen, wurde mir gesagt.
Nach wenigen Minuten schon tauchten auf der Zufahrtsrampe Lichter auf. Grosses Aufatmen ... aber es war von kurzer Dauer. Es war kein Polizeiauto, es war ein gelber Lieferwagen einer Kurierfirma mit Tessiner Kennzeichen. "Ma dove sono? Porca miseria!", rief mir der Fahrer zu, noch während er ausstieg. "Das weiss ich auch nicht, aber die Polizei kommt gleich", antwortete ich auf Italienisch, worüber sich mein Gegenüber in seiner Aufregung gar nicht wunderte.
Der Mann aus dem Tessin war völlig aufgelöst; er müsse einen Brief zum Flughafen bringen, der Abflug sei in zwanzig Minuten. "Porca miseria!" Ich grabschte weiter im Fundus meiner Italienischkenntnisse und erklärte ihm, dass auch ich nicht wisse, wo ich sei, und dass die Polizei im Anmarsch sei, um uns aus unsrer misslichen Lage zu befreien.
Der Chauffeur nutze die Wartezeit, um mir zu schildern, was für ein schreckliches Jahr dieses sei. Zu Beginn sei seine Frau, kaum 50-jährig, an Krebs gestorben, dann habe die Firma, für die er gearbeitet hatte, dicht gemacht, und er müsse seinen Lebensunterhalt mit solchen Kurierfahrten bestreiten, und jetzt das – porca miseria! Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und sehnte die Polizei herbei.
"Die Polizei schaltete das Blaulicht ein
und fragte, ob ich es sehe."
Da klingelte mein Handy. Es war die Polizei. Wo ich jetzt genau sei. "Immer noch beim Auto", sagte ich, und "wo sonst" dachte ich! Sie seien bei einer Shell-Tankstelle an der Autobahn und würden jetzt das Blaulicht einschalten. Ich solle sagen, ob ich es sehe. Tatsächlich begann es auf der anderen Seite blau zu blinken – immerhin das –, aber uns trennte immer noch eine Autobahn.
Offenbar ist das aber für einen Polizeiwagen kein Hindernis: Keine drei Minuten später traf das mit drei Mann besetzte Polizeiauto ein. Ein besonderes Gefühl, wenn einem beim Anblick einer Polizeipatrouille das Herz nicht in die Hose fällt, sondern aufblüht wie eine Tulpe im Frühling!
Ich klärte die drei Beamten auf, dass inzwischen bereits zwei Mäuse in der Falle sassen und setzte sie auch über die Zeitnot meines Leidensgenossen in Kenntnis. Sie nickten verständnisvoll, verneinten meine Frage, ob diese Einsatz etwas koste mit einem freundlichen "Die Polizei Dein Freund und Helfer", nahmen uns ins Schlepptau und führten uns – mit Blaulicht und auf für Normalsterbliche verbotenen Wegen – zurück auf den guten Pfad.
Ob der Brief noch rechtzeitig auf dem Flughafen angekommen ist, weiss ich bis heute nicht, aber ich möchte es dem Pechvogel wünschen – porca miseria!
11. Februar 2013
"Wurstbrot essender Beamter"
Die anständige Corina Christen, die ihn ihrem Leben schon viele Gerichtsverhandlungen besucht hat, hat sich nicht getraut verboten zu fahren, um sich aus dieser Situation zu befreien. Einerseits bemerkenswert anständig und vorbildlich. Andererseits hätte es hier wohl geholfen, sie hätte ein bisschen zu "ziviler Ungehorsamkeit" gegriffen, eine Schranke umgefahren, ein Verbot missachtet oder was auch immer. Denn jetzt hat die Sache keinerlei Folgen und auch keine Wirkung. Und der Beamte, der diese Falle an seinem Schreibtisch, flankiert von Gesetzesbüchern, geschaffen hat, wird im Moment wahrscheinlich zufrieden und glücklich sein Wurstbrot essen und dabei denken, es sei alles in bester Ordnung!
Daniel Thiriet, Riehen