"Lothar" sei Dank – eine Liebesgeschichte
Es begann 1999 mit "Lothar", dem legendären Orkan. Lucie wohnte im Basler St. Johann-Quartier. Sie ging gegen achtzig, topfit im Kopf, aber etwas gwagglig auf den Beinen. Deshalb nahm sie auch, wenn sie im nahe gelegenen Park spazieren ging, immer einen robusten Schirm mit, den sie je nach Bedarf als Gehhilfe oder als Regenschutz einsetzte. Auch an jenem 26. Dezember. Der Park war menschenleer – bis auf einen kleinen, drahtigen Mann, mit struppigem Bart, der mit einem Plastiksack in der Hand den Sturmböen trotzte.
"Bloost's Si au fascht furt?" sprach sie ihn an, und die beiden kamen ins Gespräch. Sie wisse einen Ort, wo es gar nie windet, sie habe dort ein Haus, im oberen Baselbiet, sagte sie im Laufe des Gesprächs. Leider müsse sie diese verkaufen. Sie müsse ihren Töchtern finanziell unter die Arme greifen.
"Das würde ich gerne anschauen, so etwas suche ich", sagte der Fremde wie aus der Kanone geschossen. Lucie horchte auf. Sie hatte das Haus schon verschiedentlich ausgeschrieben – vergeblich. "Wann?", fragte er. "Von mir aus noch heute, am späteren Nachmittag, sagte Lucie, ich habe jetzt gleich, über Mittag, noch ein Familientreffen, hier im Parkrestaurant".
Einverstanden, sagte der Unbekannte und überreichte Lucie seine Plastiktasche. "Hier, fürs Familientreffen". Es waren Aepfel, riesengrosse, gelbe mit roten Bäckchen, und sie wurden noch im Restaurant getestet. So gute Aepfel hätten sie seit ihrer Jugend nie mehr gegessen, war die einhellige Meinung. Lucie sagte nicht, woher sie sie hatte ..." was würden die auch von mir denken....ein wildfremder Mann, sie wusste nicht mal seinen Namen, mit struppigem Bart, im Sturm ... im Park ...!"
Als Lucie vom Familientreffen nach Hause kam, stand vor ihrer Türe ein weiterer grosser Papiersack mit Äpfeln. Sie blickte sich um, da öffnete sich die Fahrertüre eines Autos auf der anderen Strassenseite und – Lucie traute ihren Augen nicht – der Mann vom Park stieg aus. Es war ihm also ernst mit der Hausbesichtigung. Er habe sich noch gar nicht vorgestellt, sagte er, er heisse Albert. Dann ging es sofort zur Sache. Lucie holte die Pläne des Landhauses, holte ihr Auto aus der Tiefgarage und die beiden fuhren sofort los, um das letzte Tageslicht zu nutzen.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Das Haus, eine gute halbe Autostunde von der Stadt entfernt, etwas erhöht mit wunderbarer Aussicht über das Tal und nicht weit entfernt vom Dorfkern, stand mitten in einem grosszügig angelegten, ziemlich verwilderten Garten. Neben einem kleinen Springbrunnen träumten in einem ovalen Teich ein paar moosbedeckte Gips-Statuetten vor sich hin. Das Innere des Hauses und seine Aufteilung kannte Albert schon – er hatte die Pläne auf der Fahrt studiert.
Noch am selben Abend war beiden klar, ohne dass es hätte ausgesprochen werden müssen, dass dies eine gemeinsame Bleibe für Ferien und Freizeit werden könnte. Denn die beiden Mittsiebziger, wie sie sich gegenseitig unter Schmunzeln eingestanden, hatten sich bereits ein wenig ineinander verliebt. Man ging zum Notar, Albert kaufte das Haus, und Lucies Töchter kamen zum Handkuss.
Die Woche über wohnen die beiden inzwischen in Alberts Stadthaus im Kleinbasel, das er Zug um Zug altersgerecht und massgeschneidert für Lucie umgestaltet hat – eigenhändig, er ist der geborene Handwerker und Bastler. Den Platz im Altersheim, den Lucie für sich bereits reserviert hatte, hat sie wieder freigegeben.
Zwischendurch fährt Albert ins Badische, dort hat er eine Obstplantage, und schleppt, je nach Jahreszeit, Unmengen von Kirschen, Äpfeln oder Zwetschgen an, die er zum grossen Teil verschenkt, aus dem Rest macht Lucie Kompott und Konfitüre.
Und am Wochenende fahren sie ins Haus auf dem Land. Er werkelt – je nach Wetter – im Haus oder im Garten herum, und Lucie kocht für ihn. Die Katze, die sich dort eingenistet hat und ihnen jeweils, kaum sind sie eingetroffen, um die Beine streicht, haben sie Lothar getauft.
19. November 2012