Alzi-Tabu – jetzt will ich mich outen
Ich weiss es ja schon seit Langem. Und bevor ich es wusste, musste ich es befürchten, denn schon meine Mutter hatte es erwischt. Zu einer Zeit, da der Begriff Alzheimer nicht nur für mich, sondern für die meisten meiner Zeitgenossen noch ein Buch mit sieben Siegeln war. Und ausgerechnet sie, bereits in Alzis Klauen, hat mich darüber aufgeklärt, was dies für eine Krankheit ist, welches die Symptome sind und sogar wem sie ihren Namen verdankt, nämlich einem Arzt Namens Alois Alzheimer.
Offensichtlich hatte sie den Mut aufgebracht, sich darüber schlau zu machen, und dies wohlverstanden in einer Zeit, da das Internet als Informationsquelle noch nicht zur Verfügung stand.
Zunächst habe ich sie gar nicht ernst genommen und hielt das ganze für ein Hirngespinst. Als sich mit der Zeit die Symptome, sprich ihre Vergesslichkeit und ihre Mühe mit der örtlichen und der zeitlichen Orientierung immer deutlicher manifestierten, zum Beispiel in Bank-Angelegenheiten, welche sie früher – sie war gelernte Buchhalterin – mit links erledigt hatte, oder beim Einkaufen, wenn sie die eine Hälfte der auf dem Zettel notierten Dinge doppelt nach Hause brachte und die andere gar nicht. Oder nachdem sie mich drei Mal am selben Tag mit demselben Anliegen angerufen hatte – spätestens dann war ich hellhörig geworden.
Und nun bin ich an der Reihe. Ich suche nach Namen, nach Telefonnummern, nach Notizzetteln, nach der Brille, dem Handy, der Hundeleine und der Agenda, die je länger desto wichtiger wird, weil alles, was irgendwo in den Untiefen meines Gedächtnisses versickert ist, dort drin steht. Alles bis auf das, was ich vergessen habe, einzuschreiben, oder wenn ich es einschreiben wollte, nicht mehr wusste, was es war, das ich notieren wollte.
"Die Vorstellung, dass meine Erkrankung
die Runde macht, ist mir ein Horror."
Wonach ich ebenfalls verzweifelt suche, das sind Ausflüchte, um mein Defizit zu verschleiern. Und genau das ist es, was ich mir abzugewöhnen vorgenommen habe, nämlich mich für Fehlleistungen, für die ich ja nichts, aber auch gar nichts kann, zu schämen. Dies fällt mir bei den Menschen in meiner nächsten Umgebung, die meine Diagnose kennen und sich in verdienstvoller Weise alle Mühe geben, mir Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, inzwischen nicht mehr schwer.
Umso schwerer fällt es mir aber bei der "breiteren Öffentlichkeit", sprich jenen Leuten, die mich – oder zumindest meinen Namen – von früher her kennen, sei es als Leser meiner Bücher oder Zeitungsartikel, sei es von meinen musikalischen oder fasnächtlichen Auftritten her. Die Vorstellung, dass meine Erkrankung, wenn auch nicht grad das Stadtgespräch wird, so aber doch in vielen Kreisen unter Leuten, die mich womöglich gar nicht persönlich, sondern nur dem Namen nach kennen, die Runde macht, ist mir ein Horror.
Und gleichzeitig ärgere ich mich über meine Mimosenhaftigkeit. Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, mich darüber hinwegzusetzen, was "die Leute" denken und sagen, und damit aufzuhören, mich für etwas wofür ich nichts kann, zu schämen, etwas, das ich niemandem, auch meinen ärgsten Feinden nicht wünschen würde. Schliesslich schämt sich ein Beinamputierter oder jemand mit einem Muttermal im Gesicht auch nicht für sein Gebrechen.
Ich arbeite weiter daran:
Zum Beispiel, indem ich mir – wie beim Verfassen dieser Zeilen – versuche, mir meinen Frust von der Seele zu schreiben. Oder indem ich Hilfestellungen von mir nahe stehenden Menschen nicht als Demütigung empfinde, sondern dankbar annehme.
Oder indem ich mir vornehme, mich anstatt darüber zu ärgern, was ich nicht mehr kann, mich zu freuen über all das, was ich noch immer kann: Den Haushalt führen, Spaziergänge und Wanderungen mit dem Hund unternehmen, Kochen, Musizieren, Freundschaften pflegen, Diskutieren und – ganz wichtig – das Schreiben.
Glossen zum Beispiel, mit welchen ich meine Leserschaft unterhalten und zum Lachen bringen kann. Oder, je nach Thema, zum Nachdenken. Letzteres habe ich – so hoffe ich wenigstens – mit diesen Zeilen erreicht.
17. August 2015
"Sehr berührt"
Liebe Corina, Danke für deine sehr persönliche Geschichte. Die Wende in deinem Leben hat mich sehr berührt. Ich wünsche dir und deinem Umfeld von ganzem Herzen viel Wärme und Kraft.
Barbara Bosshard, Zürich
"Die Sprache verschlagen ob so viel Courage"
Das Bekenntnis von Frau Christen ist nicht hoch genug zu loben. Es hat mir einen Moment die Sprache verschlagen ob so viel Courage, bewundenswert! Aber auch die (vielen) Reaktionen / Echos haben mich gefreut. Ich denke, jeder weiss, dass es ihn früher oder später auch treffen kann. Merci und alles Gute für Frau Christen und die KommentatorInnen.
Barbara Umiker Krüger, Arlesheim
"Stark. Wunderbar"
Grande. Beeindruckend. Stark. Wunderbar. Danke!
Fred Lauener, Basel
"Sie setzen damit Zeichen!"
Als Präsident der Alzheimervereinigung beider Basel bis Mai 2015 bin sehr beeindruckt und danke Ihnen für den Mut zur Herstellung von Öffentlichkeit! Sie setzen damit Zeichen! Ich wünsche Ihnen weiterhin Mut und Gelassenheit - alles Gute!!!
René Rhinow, Liestal
"Das Wesentliche des Lebens"
Liebe Corina, was für ein Text: Bewegend und ermutigend! Danke, dass Du uns das Wesentliche des Lebens vor Augen führst.
Mirjam Jauslin, Muttenz
"Meine Hochachtung"
Meine Hochachtung, Frau Christen. Ich freue mich auf Ihre weiteren Texte.
Angeline Fankhauser, Oberwil
"Hat's mich auch schon erwischt?"
Selber schon – mit knapp 70 Lenzen – hie und da von kleinen und grösseren Vergesslichkeiten "pfäzt", frage ich mich hie und da, obs's mich auch schon erwischt hat. Und vor allem, ob ich den "Maage" hätte, dies öffentlich kundzutun. Hut ab, ich kann ihren Mut nur bewundern und vor allem hoffen, dass uns von Corina Christen – unter dem (angepassten) Motto "Wie kunnt e Brief uss Läufelfinge" – noch ganz viele ihrer unvergleichlichen Kolumnen auf OnlineReports erfreuen; grad weil's für Corina Christen ihren sicherlich nicht einfachen Weg, wie sie schreibt, etwas leichter macht.
Edi Borer, Neuhausen/D
"Das Herz klopft mir bis zum Hals"
Soeben haben ich Deine Kolumne gelesen, liebe Corina, und das Herz klopft mir bis zum Hals! Was für eine unglaubliche Kraft steckt doch in Dir, dass Du uns mit dieser Diagnose konfrontieren kannst und "es" nicht versteckst. Ich bewundere Dich und bitte von ganzem Herzen: schreib weiter, noch lange, lange – und wenn ein gesuchtes Wort nicht mehr zu Dir kommen will, dann nimm ein anderes. Umschreibe, aber schreibe. In tiefer Verbundenheit grüsst Dich
Marguerite Mamane, Allschwil
"So muss es sein"
Ich bin baff und gerührt und denke mir: So muss es sein. Danke für den Mut und ich freue mich auch weiterhin auf die Kolumne.
Urs Lehmann, Basel
"Sehr eindrücklich"
Sehr eindrücklich und berührend! Ich wünsche Frau Christen, dass sie sich noch lange an den Sachen, die sie jetzt noch kann, freuen kann.
Helen Wehrli, Küttigen AG
"Chapeau, Corina Christen!"
So weh es tut, Ihre heutige Kolumne zu lesen, kann ich nur eines schreiben: "Chapeau, Corina Christen! Und vielen Dank für alles, speziell für Ihren Mut!"
Heidi Gisi, Basel
"Bewegender Text"
Der Text ist bewegend und macht einem wortlos und stumm! Gedanken gehen zu Corina Christen!
Heidy Strub, Pratteln
"Mehr Mut als Verzweiflung"
Für ihre wahrhaft mutige, zutiefst beeindruckende und bewegende Kolumne kann man Corina Christen nicht genug dankbar sein. Ihr Bekenntnis hat für mich einen ähnlich hohen Stellenwert wie Steve Jobs dritte Geschichte. Beide zeugen, will man Günther Weisenborn glauben, von wahrhafter Menschlichkeit, die darin besteht, immer etwas mehr Mut als Verzweiflung zu haben. In diesem Sinne begleiten Sie, liebe Frau Christen, die herzlichsten Wünsche Ihrer treuen Leserinnen und Leser, die sich auf noch ganz viele Ihrer Geschichten freuen.
Pius Helfenberger, Münchenstein
"Mit grossem Respekt"
Sehr geehrte Frau Christen, möge Ihnen die Schreib- und Ausdrucksfähigkeit, und anderes Schöne mehr, noch lange erhalten bleiben. Ihr treuer, vierbeiniger Freund wird dabei kräftig mithelfen! Mit grossem Respekt und herzlichen Grüssen
Albert Augustin, Gelterkinden
"Kolumne ist tief eingefahren"
Liebe Corina, als regelmässiger Leser, aber auch als ehemaliger Journalisten- und Redaktions-Kollege, als Fasnächtler und Schnitzelbangg-Fan ist mir Deine Alzi-Kolumne tief eingefahren: Chapeau für Deinen Mut, uns allen, die Dich kennen und schätzen, die Wahrheit zu offenbaren. Die Art und Weise, wie Du mit dieser Alzheimer-Erkrankung umgehst, mit ihr lebst und sie nun auch öffentlich machst, verdient höchste Anerkennung und Respekt. Alle sind zutiefst direkt betroffen, die – wie Du treffend schilderst – schon mal (oder mehrmals) einen Namen vergessen haben und in vorwurfsvollem Ton mit Vorwürfen konfrontiert werden "Weisst Du das denn nicht mehr?" oder "Hast Du das schon wieder vergessen" konfrontiert werden.
Dein Ziel, mich als Leser zum Nachdenken zu bringen, hast Du voll erreicht, weshalb ich mir wünsche, dass Du uns weiter mit Deinen Kolumnen freust, ärgerst, nachdenklich oder wie diesmal so traurig machst, dass Tränen über die Backen fliessen und auf die Tastatur tropfen.
Conrad Engler, Basel/Engelberg
"Mutig und intelligent"
Super Artikel und sehr mutig und intelligent geschrieben. Hut ab, Corina Christen!
Carlee Marrer-Tising, Basel
"Mut und Seelenstärke"
Vor soviel Mut und Seelenstärke kann man nur "beugen des Herzens Knie": Corina Christen ist eine grossartige Frau. Corinas Text ist in seiner Authentizität mit Sicherheit weit wirkungsvoller als manch populärwissenschaftliches Buch zum Thema Alzheimer. Wie gut, dass Corina Christen sich bei OnlineReports äussern konnte. Danke.
Meta Zweifel, Münchenstein