Theater Basel
Kleine Bühne
"Traumspiel"
Von August Strindberg
Regie: Tomas Schweigen
Bühne: Stephan Weber
Dramaturgie: Bettina Ehrlich
Mit Philippe Graff, Jesse Imman, Vincent Leittersdorf, Mareike Sedl, Cathrin Störmer, Vera von Gunten, Silvester von Hösslin, Stephan Weber, Demian Wohler, Tomas Schweigen
Thater Basel
Schauspielhaus
"Don Karlos"
Von Friedrich Schiller
Regie und Bühne: Simon Solberg
Musik: Henrik von Holtum
Dramaturgie: Eva Böhmer
Video: Julian Gresenz
Mit Inga Eickemeier, Dirk Glodde, Paul Grill, Thomas Meinhardt, Judith Strossenreuter, Jan Viethen
Alles neu, im Minimum aber alles anders
Es sollte ein "Doppelschlag" werden, so nannte es Chefdramaturg Martin Wigger: Um 19 Uhr "Ein Traumspiel" vom neuen Co-Schauspieldirektor Tomas Schweigen mit seiner Truppe "Far a day cage" auf der Kleinen Bühne, dann um 21.30 Uhr "Don Karlos" vom neuen Co-Schauspieldirektor Simon Solberg im Schauspielhaus.
Und in der Tat, wer sich diesen Eröffnungsabend des Schauspiels am Theater Basel angetan hat, der weiss jetzt ultimativ, dass alles neu, im Minimum aber alles anders dort ist. Und wird! Denn der Generationenwechsel vom bedächtigen Vorfünfzigjährigen Ex-Schauspielchef Elias Perrig zu den jungen Wilden wird sich – davon bin ich überzeugt – auch rasch auf das Durchschnittsalter im Publikum übertragen.
Vorbei ist in Basel vorerst die Zeit, da sich die Regisseure noch darum foutierten, ob oder wie weit sie sich Werktreue oder Dekonstruktion vorwerfen lassen wollen. Solberg und Schweigen schreiben keck "von" Schiller respektive "von" Strindberg – und erzählen selbstbewusst und konsequent ihre ganz eigene Geschichte aus dem Stoff. Und sie tun es mit schnellem Tempo.
Regisseur Solberg etwa staucht das fünfaktige Schiller-Drama auf ein Fünftel seiner Ursprungslänge zusammen, überfällt das Publikum mit brachialem Gitarrenlärm, Bühnenrauch und Stroboskop-Blitzen – und übrig bleiben Ohrenrauschen und eine Revoluzzer-Schmonzette. Man bedient sich an "Tagesschau"-Bildern des Arabischen Frühlings und von Drohnen-Bombenabwürfen in Afghanistan, um für die Basler Bühne zu dokumentieren, dass da einer ist, der blutige Machtmittel einsetzt, das sei der König Philipp. Gegen den laufen drei nette, junge Leute Sturm. Am Ende sind sie tot.
Solbergs Theater kehrt alles plakativ heraus – um in bildlichen Symbolbegriffen zu erstarren. Philipps Reich ist eine Welt wie im "Terminator 2"-Film: Stählerne Überwachungstürme stehen da, weisse Lichtkegel kreisen, Kameras erfassen jeden Winkel, Glaspavillons werden zu futuristischen Einzelgefängnissen. Statt vom Arabischen Frühling redet König Philipp (Meinhardt) vom "flandrischen Frühling" und köpft mit dem Zweihänder Tulpen. Die Lebensunlust von Sicherheitschef Herzog von Alba (Glodde) belegt sein Rollstuhl. Darin kurvt er wie ein verkürzter Mensch herum und überwacht das Reich mit Hilfe von "Skype" und Headset.
Philipps Sohn Don Karlos (Grill) trägt aus Trotz gegen seinen Vaterkönig einen Taliban-Bart. Als sein Freund Marquis von Posa (Viethen) ihn auffordert, endlich die flandrischen Provinzen vor dem blutigen Inquisitions-Zugriff seines Vaters zu bewahren, da steckt er den Kopf in einen real vorhandenen Sandhaufen. Karlos' verbotene Liebe zur Elisabeth – seiner einstigen Braut, die ihm Philipp wegheiratete – führt trotz Totalüberwachung dennoch zu wilden Knutschereien, denn wie zeigt man sonst Liebe? Eben darum drauflos. Und wenn von der enthaltsamen Elisabeth (Strossenreuter) die Rede ist, dann tanzt sie in Engelsflügeln im Bühnenhintergrund. Wenn Philipp sie über mögliche Untreue befragt, dann tut er dies mit der Foltermethode des Waterboardings. Solberg lässt nichts aus.
Aber Schiller hatte auch danach gefragt, mit welcher Potenz ein Philipp seine Weltmacht, sein Überwachungsregime und seine Königsbürde legitimiert und was er dafür bezahlt mit Angst, Einsamkeit und Entmenschlichung. Diese reich ausgestaltete Tiefensicht erst gibt dem Gebilde und dem Widerstand dagegen die Dimension. Jedoch, davon nichts. Philipp bleibt ein ironisch lächelnder Senior-Direktor, eine Stellvertreter-Eminenz in glänzend grauem Anzug. Anders gesagt: Der Krimi ist da, das Drama nicht. Don Karlos' pubertäres Ausagieren an einer Vaterpuppe macht das nicht wett.
Anstelle dessen darf Posa sich pathetisch-süsslich über die "Milliarden, die sich erheben werden" auslassen. Nun, wogegen denn genau? Und welche Machtmittel schreibt man einem König (heute?) zu, von dem Posa fordern kann, er soll das Volk von "materieller Not befreien"? Und welches Bild von menschlicher Autonomie enthüllt dieser Solberg-Posa?
Was auch gesagt sein muss: Alles ist bewusst gesetzt. Die Aufführung hält klaren Kurs: von allem immer das big picture. Und sie hängt nie durch.
Eine Entdeckung hält die Aufführung auch bereit: Der Ensemble-Neuzugang Paul Grill als Don Karlos zeigte sich in den Stürmen seiner vielfältigen Emotionen sehr führungssicher und technisch versiert. Sehr vielversprechend. Er erhielt den stärksten Applaus.
Strindbergs "Traumspiel" als freundlicher Auftakt
War der "Karlos" der "bad trip" des Abends, so war das "Traumspiel" der freundliche Auftakt. Dominierte bei Solberg im Eindruck eine spitzkalkulierte Tempo-Show mit virtuosen Soli und harten cuts, so bei Schweigen ein allzeit präsentes Ensemble, wo jede und jeder permanent am Gesamt-Gewebe mit seinen vielen Details wob, als Bühnenfigur, Musikerin oder Kulissenschieber.
Der Chef selber zupft die Lead-Gitarre zum Krautrock seiner Ensemble-Band, während Gott Indras Tochter (Störmer) an Drähten vom Himmel hoch herunter gleitet in diese Welt des Jammers. Was trifft sie an? Einen Offizier, der seit Jahren seine geliebte Opernsängerin beim Theater abholen will. Sie kommt nie. Oder den Advokaten, dem sich die Verbrechen seiner Klienten und das Elend der Ehescheidungen ins Gesicht geschrieben haben. Eine Türhüterin, die nie schlafen darf. Eine Welt des Klagens.
Genau das Klagen lässt die Junggöttin aus göttlicher, ungebundener Warte aber unbequeme Fragen stellen, mit denen sie die Leute gegen sich aufbringt. Zumal die Vertreter der Deutungshoheit: den Philosophen, den Mediziner, den Theologen und den Juristen. Wie ein Schneidebrenner fährt sie unbefangen und göttlich naiv durch die menschgemachten Sachzwänge.
Aber Schweigens Truppe "Far a day cage" mochte darauf nicht den Hauptakzent setzen. Die vier Fakultätsherren sind gestrichen. Und Cathrin Störmers Gottestochter ist auch keine ätherische Erfühlerin menschlicher Zanklust und luzide Erdulderin des Unwillens, sondern eine robuste Königstochter im Glitzerkostüm, die die emotionale Neutralität, gerade wenn sie sich auf die Ehe mit dem Advokaten einlässt, rasch aufgibt. Und so bleibt auch ihr Mitgefühl mit der Kreatur, wenn sie Armut und Schmutz kennenlernt, oder wie das Glück des einen das Leid des andern bedeutet, eher beschränkt. Verschenkte Fallhöhe, weil Subversivität unterlaufen.
Stattdessen soll das Publikum sich auf das Erlebnis Traum einlassen. Das Ensemble liest die entsprechende Regie-Anweisung Strindbergs laut vor, dass alles möglich und wahrscheinlich sei. Und so passiert es denn auch: Der Bühnenbildner unterbricht wiederholt die Vorstellung. Das sei alles Trash, er könne nicht mehr dazu stehen. Noch wirkungsvoller aber ist die Stelle, wo das Ensemble in einen Text-Loop verfällt und die Szene mehrfach wiederholt. Oder wo die Gottestochter und der Dichter auf einer senkrechten Wand aufrecht stehen: eine schief gestellte Kamera macht es möglich – was auch offen gezeigt wird.
Überhaupt: Das Theater wird als klägliche Illusionsmaschine vorgeführt. Ärmlich ausschauende Pappkulissenwände werden dauernd herumschoben, Fenster werden da herausgesägt. Der Lichtchef fährt am Pult auf der Bühne Regler rasch rauf und runter. Indras Tochter sagt: "Siehst Du, jetzt ist Tag, Nacht, Tag, Nacht." Die Scheinwerfer stehen auf Stativen auf der Bühne herum, leuchten ihre Kegel dilettantisch ungenau gerichtet auf die Szenen. Eine Szene mit Masken wird unterbrochen: Warum mit Masken spielen, fragt jemand. Eine Truppe spielt das Theatertruppenspielen. Das ist manchmal inspirierend, manchmal furchtbar harmlos.
Wird daraus ein Traum? Am ehesten bei den Übergängen. Beim einen singen die Leute etwas Choralartiges, die Bühne fällt ins Halbdunkel, die Kulissenwände rollen. Und plötzlich ist das ein Vorgang, wo das Geschehen ohne die Schwelle des Bühnenakts direkt in psychedelisches Erleben übergeht. Das Beste an der Aufführung jedoch war die stellenweise beinahe kindliche Spielfreude von Schweigens Ensemble. Das hat man so lange nicht mehr gesehen hier. Kräftiger Applaus.
Schlussbemerkung: Das Schauspiel des Theater Basel hat heute Abend einen Neustart gewagt. Es geht darum, wieder ein Publikum zu finden und das Überleben der Sparte in Basel zu sichern. Die Basler Regierung, insbesondere Kulturdirektor Guy Morin, ist leider ausgeblieben.
22. September 2012