Theater Basel, Grosse Bühne
Premiere
"Berlin Alexanderplatz"
Autor: Alfred Döblin
Bühnenfassung: Peter Kastenmüller und Martina Grohmann
Regie: Peter Kastenmüller
Bühne: Michael Graessner
Video: Stefan Bischoff
Musik: Malte Preuss
Mit Urs Bihler, Carina Braunschmidt, Martin Engler, Pascal Lalo, Chantal Le Moign, Vincent Leittersdorf, Barbara Lotzmann, Ingolf Müller-Beck, Michael Neuenschwander, Linda Olsansky, Mira Partecke, Malte Preuss
Geköpfte Hühner
Die vierstündige Theateraufführung des Romans "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin ist seit längerer Zeit die erste Schauspielproduktion mit dem Potential zum Stadtgespräch. Gerade auch, weil man darüber diskutieren kann, inwiefern es hier gelungen ist, dem Roman auf der Bühne gerecht zu werden. Das mit mehr lokaler Prominenz als üblich durchsetzte Publikum applaudierte heftig und verliess um Mitternacht das Theater angeregt.
Wir sind nun ganz unten. Irgendwo in einem riesigen Untergeschoss, am Fusse von vier Rolltreppen. Ein Warenhausneubau? Starkes Rauschen. Strassenlärm, von oben? Franz Biberkopf (Leittersdorf) stürzt herbei. Aufgerissenes Gesicht: "Die vier Jahre (im Gefängnis Tegel) sind um. Jetzt beginnt die Strafe." Und gerät gleich ins Gedränge mit drei Frauen, drängelt umher: Schon beginnt das Handgemenge des Lebens – sowieso mit den Frauen!
Franz braucht jetzt erstmal "ne Frau". In Döblins Roman von 1929 geht er zu Prostituierten. Im Theater Basel von 2008 geht er in eine Onanie-Kabine mit Internetanschluss. Zieht vor uns den Vorhang. Eine nackte Frau driftet als Bildschirmschoner auf drei riesigen Videoscreens über der Bühne umher. Aber das "is nischt". Geht zur Minna (Le Moign). Der Schwester von der Ida. Da klappts. Er ruft begeistert: "Der Franz ist wieder da." Ja, zum Leiden. Der einstige Möbelpacker wird seine anständige Arbeit, seinen rechten Arm, seine Mieze (Partecke) und den Verstand verlieren. Mit der Ida war der Franz vor dem Gefängnis zusammen, hatte sie im Suff mit einem Schaumschläger geprügelt, sie starb, er kam nach Tegel.
Wie ein solcher Schaumschläger die Rippen durchschlägt, das setzt ein Arzt einer Fernseh-Moderatorin genau auseinander: Das Interview wird vom Bühnenvordergrund auf die drei Videoscreens übertragen; der Roman ist für in die Handlung einmontierte Passagen berühmt geworden: Eben physikalische oder medizinische Erklärungen, oder Bibelstellen, amtliche Aufrufe, Gedichte, Zeitungsmeldungen, Schlagertexte, Inseratewerbung.
Hier kriegt das Stilmittel der parallel eingesetzten Video-Bilder einen klaren Aussagesinn: Die von Döblin im Roman verwendete Montage mit ihren parallelen Welten ist zu unserer selbstverständlichen Lebensrealität geworden. Und noch gesteigert: Nur was auch im Fernsehen kommt, das "ist". Selbst als Franz die Nutte Mieze bei einem arrangierten Treffen kennen lernt, wird alles mit der Kamera festgehalten, "live übertragen". Zwischen den Live-Übertragungen: Frühe TV-Werbespots, nervöse Börsianer, Blutgefässe, geköpfte Hühner, startende Flugzeuge, Mickey Mouse-Cartoons.
Mitten in der Aufführung rollt sich ein Mann als "Proton" im Rhönrad auf die Bühne. Frisch dem Cern-Experiment entsprungen präsentiert es sich als Symbol für den Helden Franz Biberkopf. Leittersdorf spielt nicht den brütenden, innerlich zerrissenen Gemütsbrocken des Romans. Vielmehr sind die Figuren Träger-Elemente der Handlung in diesem Stadt-Organismus, wo jetzt alles viel schneller geht. Da haben die verrauchten Gemütlich-Kneipen keinen Platz mehr: Es gibt nur mehr Fast Food-Unorte. Die meisten Figuren werden vom Roman aus mehrere Zacken weitergedreht. So halten sie dem forschen Erzähltempo stand: Mieze ist nicht zerbrechlich, sondern eine robuste Plärrboje mit Sarah Palin-Brille, Gangster-Chef Pums ist ein Intellektueller, Biberkopf ein anspruchsloses Tausends-Gesicht im Überlebenskampf.
Wir nehmen weniger an ihnen teil als dass wir ihnen einfach mit der Frage "Was passiert denen denn jetzt?" zugucken. Etwa die Anhänglichkeit von Mieze am als unappetitlich beschriebenen, unförmigen Säufer: Müssen wir als gegeben akzeptieren, wird nicht vorgeführt. Wir müssen auch auf die Läuterung des Helden verzichten, die Döblin für ihn vorgesehen hatte: Wenn er im Rhönrad über der Bühne hängend herumschreit – das ist zu dünner Ausdruck für die Prozesse, die eigentlich gemeint sind. Dahin kommt auch keine Videokamera.
Viel stärker gelungen sind da die konkreten Spielszenen, etwa wenn die Ganoven mit ihrem Chef Pums (Müller-Beck) streiten oder Ganove Reinhold (Neuenschwander) die Mieze verführen will, und sie am Ende umbringt: Das Testosteron-Schäumen des naiven Irren wirkt anrührend und bedrohlich zugleich. Die Szene kommt auch ohne den Perma-Klangteppich von Malte Preuss aus, der etwa wie Neil Young im Jarmusch-Film "Dead Man" dauernd auf seiner elektrischen Gitarre rumschrummelt und mit brüsken Einsätzen das Publikum erschreckt.
30. November 2008