Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Die Räuber"
Nach Friedrich Schiller
Regie: Simon Solberg
Dramaturgie: Ole Georg Graf
Video: Christoph Menzi
Bühne: Simeon Meier
Kostüme: Aara Kittelmann
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Martin Hug, Marie Jung, Özgür Karadeniz, Florian Mueller-Morungen, Lorenz Nufer, Jan Viethen
Nazi-Pharma, Blocher und Al Kaida
"Das ist doch kein Schiller", schrie eine Mitfünfzigerin in den vorderen Publikumsreihen und stapfte Richtung Ausgang. "Silence, I kill you", herrschte sie Räuber Razmann von der Bühne herab an. Natürlich war die Protestlerin eine Schauspielerin, und ihr Text auf Seite 48 der Spielfassung vorgeschrieben. In Zeiten, wo mit Theater kein Skandal mehr gelingt, muss man den halt simulierend vorspielen. Oder ging es um den selbstreferentiellen Effekt – so wie die TV-Soaps das Gelächter eines nicht anwesenden Publikums einspielen?
Jedenfalls formulierten die Macher als Vorbemerkung den Anspruch, "die inhaltliche wie formale Zumutung, die Schillers Räuber zur Entstehungszeit bedeutete, nach heute zu übertragen". Das würde ja heissen, dass die Macher im Sinne einer Intervention die gleiche, gewaltige Wirkung wie Schillers Uraufführung von 1782 entfalten wollten. Ob dies, mit Absicht, so gelingen kann? Oder heisst Zumutung hier bloss Schockwirkung? Die Macher preisen ihre Fassung als "raubkopiert" an. Von wo raubkopiert? Von Schiller? Sicher nicht.
Sicher aber ist, dass Regisseur Simon Solberg und Dramaturg Ole Georg Graf die Überzeugung vertreten wollen, Schillers Stück sei im Wesentlichen ein zorniger Sturmlauf gegen alle Instanzen von Macht, und dass Macht in der Realität immer gleichbedeutend mit Unrecht sei. Und dass man uns Baslern am meisten "zumutet", wenn aus der Adelsfamilie Moor neu eine Basler Pharmafamilie wird, deren Weltkonzern jährlich einen Gewinn von 8,1 Milliarden Franken erzielt (Roche 2008: 11 Milliarden). Urs Bihler als alter Moor rättert geizig baseldytsch: "Me sait nid nyt, aber me git nyt."
Triumphierend beschimpft Lieblingssohn Karl (Nufer) den alten Moor als "Nazi", der mit dem "Unrechtsstaat" China Geschäfte mache. Er kündigt vor den Fernsehkameras an, alle teuren HIV-Medikamenten-Patente an die Entwicklungsländer gratis freizugeben. Nach dem Eklat streift er sich eine Kaki-Kämpferhose über die Anzughose, um runter zu steigen zu den Linksautonomen und sich dort als Boss zu etablieren. Schillers Räuber als Punks? Hatten wir schon. Zum Beispiel 1989 am Münchner Prinzregententheater. (Da war Regisseur Solberg gerade zehn Jahre alt.) Wo bitte ist die inhaltliche Zumutung?
Die Welt ist brutal in ein materialistisches Oben/Unten getrennt: Ganz oben die graue Industriefassade – so sieht offenbar unser Metropolis-Himmel aus. Die Menschen leben in einem engen Container, der wie die Aktienkurse rauf- und runterfährt: Im Obergeschoss die Pharmafamilie Moor im klassizistischen Wohnstil eingepackt, im Untergeschoss die "Räuber". Im Obergeschoss siecht der alte Moor in Gewissensqualen und im Liebesentzug dahn, traktiert vom perversen Sohn Franz. Und im Untergeschoss die "Räuber", die sichtlich Spass haben in ihrer kahlen Beton-Höhlen-WG. Selbstverständlich liegt unten der Sympathie-Schwerpunkt der Macher und des jüngeren Publikums. "Die Räuber" als Feier der Jugend. Ihr Motto: Freiheit durch Gesetzlosigkeit. Ob da Karl auch in Schillers Version voll zugestimmt hätte?
Die Räuber albern in Spiegelbergs Küche herum, jammen mit Elektro-Gitarre oder werfen sich als A-capella-Chörlein rappend oder schnulzend in Pose:"Stehlen, morden, huren, balgen, heisst bei uns die Zeit zerstreun, morgen hangen wir am Galgen, drum lasst uns heut lustig sein." Die seligen "Acapickels" liessen grüssen. Szenenapplaus! Auch Razmann (Karadeniz) wird bejubelt als er im heutigen Gossenslang mit galoppierendem Chargenwechsel einen Überfall seines Chefs Karl Moor schildert. Statt Schiller-Lyrik feiert hier die Komiksprache Halbwüchsiger mit den simulierten Schlaggeräuschen "Tschschsch" und "Bumm" und "Zack" fröhlich Urständ.
Die Räuber von heute überfallen weder Klöster noch Kutschen. Wenn sie nicht gerade in Spiegelbergs WG-Küche essen, versprayen sie die Garagentore der 20 reichsten Schweizer mit deren Vermögenstotalbetrag. Mit diebischem Vergnügen machen die Schauspieler mit Industriellennamen wie Straumann oder Matullo-Blocher einen Namensappell im Schauspielhaus. Als die "Bullen" den Räuber Roller packen, radikalisieren sich die Punks. Sie produzieren Mordvideos im Stile von Al Kaida. Ihre Opfer: Christoph Blocher, Sepp Blatter, der Papst, im Hintergrund hängt ein Bild von Ernst Beyeler unter dem roten Stern. Dazu dröhnen die Neunziger-Jahre-Alternativ-Rocker "Rage against the machine".
Zu den formalen "Zumutungen" gehört ebenso die Bebilderung von Franzens Welt: Hier bedient sich Regisseur Solberg bei der dramatischen Wirkung des Horrorfilms "Blair Witch Projekt" (1999). Franzens einziges Du ist die Video-Kamera. In diese raunt und krächzt er grausame Selbst- und Welterörterungen, empört sich gegen seine Hässlichkeit, und streckt seine Nase ins Objektiv. Wir sehen es schwarzweiss auf Grossleinwand. Eine eindringliche Bildchiffre für nihilistische Selbstbespiegelung in der Isolation. Hier, für die Hölle der Oberen, für Franzens innere Verwahrlosung, scheint den Machern Schiller wieder angemessen. Schillers schneidende Monologzeilen der Abgründigkeit sind uns heutigen offenbar einfacher verständlich als der Rest. Besonders pervers: Als Franz glaubt, sein Vater, der Patron, sei endlich tot, filmt er diesem von ganz nah ins Gesicht. Das Elend des Kreatürlichen auf Grossleinwand: Da wurde es still im Theater. Der eindringlichste Moment des Abends.
In diesem Biotop des Jammers kränkelt Karls Verlobte Amalia dahin, bis sie sich heraus reisst. Die Dramaturgie schenkt ihr ein zweites Leben: Inkognito schleicht sie sich bei den Räubern ein, sprengt Frauen und Kinder in die Luft bis die Räuber sie selbst erschiessen. Botschaft: Die Oberen pervertieren selbst die Unschuldigsten. Obgleich Marie Jung in der Rolle viel schauspielerische Agilität beweist, bleibt die Frage, ob Menschen so patchworkartig funktionieren. Als Karl sich für seine Morde der Justiz stellen will, knallen ihn seine Räuber ab. Die Linksautonomen streifen ihre Terroristenoveralls aus, hocken sich in dunklen Anzügen als neue Bosse der Welt vor uns hin.
Fazit: Es sind diese groben, quasi einleuchtenden Bezüge, die (zu Recht) Verdacht erregen sollten. Pharmagiganten, Nazi, Blocher, Al Kaida: Statt Reizbilder zu befragen, werden mit pop-artig aufgemachten Klischees die wesentlichsten Fragen, die Schillers Werk aufwirft, zugepflastert. Und damit auch das wesentliche Drama: Karl Moors innere Zerrissenheit – bei Schiller die innere Bühne eines hohen Geistes mit schweren Gemütsbelastungen – kommt in Konkurrenz zur Betriebsamkeit auf der Bühne ganz flach heraus.
Die als Absicht vorgestellte Zumutung ist am Ende eine Anbiederung an längst etablierte, leicht konsumierbare Erzählformen aus dem Jugendtheater. Das Publikum applaudierte heftig. Manche scheinen froh gewesen zu sein, der Denk- und Gefühlsanstrengung von Schillers Text weitgehend entronnen zu sein. Aber man ist halt auch seinem Reichtum entkommen! Schiller dient hier im Wesentlichen mit seiner reichen Effektpalette – und mit seinem sehr gut verkäuflichen Namen.
15. Januar 2010