Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Die Wildente"
Autor: Henrik Ibsen
Regie: Amélie Niermeyer
Dramaturgie: Martin Wigger
Bühne: Nikolaus Porz
Illustrationen: Franziska Nyffeler
Musik: Fabian Kalker
Kostüme: Annelies Vanlaere
Licht: Cornelius Hunziker
Mit Andrea Bettini, Inga Eickemeier, Martin Hug, Dieter Mann, Florian Müller-Morungen, Elisa Plüss, Christiane Rossbach, Götz Schulte
Alle sind angeschossen
"Berührend", meinte eine Zuschauerin zu ihrem Begleiter nach dem kräftigen, ja teilweise donnernden Schlussapplaus. Im Schlussbild hatte der alte Ekdal (Bettini) auf der Bühne gestanden, die Augen erfüllt von Entsetzen und Tränen, leise einen Marsch zwischen den Lippen hervorpaffend. Der Stillhaltemodus, wenn etwas zu Schreckliches geschehen ist. Eben hatte sich seine Enkelin, die 14-jährige Hedvig Ekdal (Plüss), erschossen.
Warum? Eine Vielzahl von Gründen. Der Wichtigste: Ihre Welt ist zerstört, in deren Trümmern gibt es kein Platz mehr für sie – so jedenfalls die Deutung, die auf der Bühne des Basler Schauspielhauses ausgebreitet wird. Diese Welt besteht aus dem, was Hedvig mit zwei Overhead-Projektoren gleissend auf weisse Stellwände wirft: Gezeichnete Räume, in die das Mädchen Lampen malt, das Fotoatelier der Familie etwa oder deren Küche. Oder die Bodenkammer: Zwischen alten Weihnachtsbäumen hält der alte Ekdal Kaninchen, Hühner und eine Wildente. Hedvigs Wildente: Der örtliche Grosshändler Werle (Mann) hatte sie einst angeschossen, Hedvig hatte sie gepflegt.
Und sie besteht aus dem lebensuntüchtigen Vater Hjalmar (Hug), der sich für einen Erfinder hält und um den man sich kümmern kann, aus der stillen, aber nervösen Mutter Gina (Eickemeier), die das schlecht gehende Fotoatelier der Familie führt. Eifrig hält Hedvig die ungleichen Eltern zusammen, die ausser dem Schicksal und einer gegenseitigen Dankbarkeit wohl nichts zusammen hält. Denn man lebt ja ärmlich. Fast schon trotzig singt das Trio "Davids Song" der Kelly Family, ist mal die Harmonie bedroht.
In diese Welt war nun ein Fremdkörper eingedrungen: Gregers Werle (Schulte), Sohn des Grosshändlers Werle. Der hasst seinen Vater und geht auf Kreuzzug: Er will seinem Jugendfreund, dem Vater Hedwigs, Hjalmar, die "Wahrheit" sagen. Dass nämlich sein Vater, der Grosshändler, mit Hjalmars Frau Gina vor der Ehe eine Affäre gehabt haben könnte. Dass der Grosshändler Hedvigs Vater sein könnte. Dass der Grosshändler ihm wohl deshalb die Heirat ermöglicht und sein Atelier finanziert habe. Als Gina zugibt, dem Drängen des Grosshändlers nachgegeben zu haben, verliert Hjalmar den Boden unter den Füssen, will sich von seiner Familie trennen.
So, und nun könnte man darüber streiten, ob die Wahrheit dem Menschen nicht zumutbar sei. In seinem Schauspiel von 1884 setzt Ibsen den Leser konsequent zwischen Stuhl und Bank: Zwischen Gregers atemberaubender Selbstgefälligkeit, für die Familie Ekdal eine wahrheitsgemässe "Lebensgrundlage" schaffen zu wollen, und dem Zynismus des Arztes Relling (Müller-Morungen), der Hjalmar als einen selbstmitleidigen Schwächling verachtet und die Leute in ihren Lebenslügen bestärkt.
Aber in der Regie von Amélie Niermeyer werden keine Fragen aufgeworfen sondern ein Untergang szenisch gestaltet. Gregers wird nicht so quasi selbstgewiss gezeichnet, dass man sich über dessen protestantisch gefärbten Gerechtigskeitswahn empören könnte. Der Mann – er tritt im Smoking barfuss auf und verliert nach und nach Jackett und Hemd – ist ein Opfer, ein getriebener Gestörter, genau so lebensunfähig wie Hjalmar, der sich nun aber an der Lebenslüge eines neu entdeckten Lebenssinnes aufrecht erhält.
Man sieht es von Beginn weg, alle sind sie Angeschossene: nicht nur die Wildente sondern auch Gregers, die eifrige Hedvig, der beschränkte Hjalmar, Gina im zu kurzen Leopardenkleidchen (Kostüme: Annelies Vanlaere), die so vom Leben abgeschabt wirkt, als hätte sie sich prostituiert. Oder der debile, gelegentlich polternde, alte Ekdal, der vom alten Werle bei einer ungeklärten Justiz-Affäre wohl geopfert wurde. Bettini zeigt ihn nicht als verschüchterten Alten, sondern als bipolar Gestörten.
Der einzige Gesunde und Vernünftige ist ausgerechnet der Grosshändler und dessen Verlobte, Frau Sorby (recht derb, Rossbach). Diese haben auch Gregers Ideal wahrgemacht und sich das ganze Vorleben bereits mitgeteilt. Wäre das die ganze Lehre: Den reichen Egoisten geht es gut und die Geschwächten sind zu schwach?
Das Problem ist, dass wir die Schwäche zu wenig kennen lernen. Die Hauptfiguren Hedvik, Hjalmer und Gina sind – bei allem virtuosen Handwerk Eickemeiers, bei aller Präsenz Hugs, bei aller Kreativität Plüss' – zu eindimensional, zu farcenhaft gezeichnet. Die Schwelle zum Losschreien liegt tief. Das verringert die Intensität. Da entfällt die Spannung, ob man mit ihnen etwas zu tun haben könnte. Anders: Man kann sich über einen Hjalmar nicht aufregen, wenn er Hedvig grob von sich stösst. Man hat Mitleid mit ihr, aber es ergreift einen nicht.
Hedvig ist der Fokus einer straff geführten Show, die nach Uhrwerk das Drama durchtickt. Niermeyer beweist souveränes Gestaltungs-Handwerk. Sie plaziert bewusst leise Dialoge im Wechsel zu betont groben und lauten Ensembleszenen, verengt mit Stellwänden den Raum wenn sich das Drama zuspitzt, weitet sie danach wieder. Genauso verfährt sie mit dem Licht: mal grell, mal düster. Nichts ist ungefähr: Zu jedem Auftritt fällt ihr ein neuer Dreh ein. Sie streut Lieder ein oder unterhält das Publikum mit den Zeichentrick-Animationen Franziska Nyffelers, in denen die Hasen hoppeln (Bodenkammer) oder Hjalmar in der Küche eine Schale zerbricht.
Insofern: Saftiger Theaterabend, dem das Publikum gebannt folgte. Aber der Stil steht den Tiefen Ibsens entgegen.
18. Januar 2015