Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung/Auftragswerk
"Retten, was zu retten ist"
Entstanden im Rahmen des Autorenförderprogramms Stück Labor Basel
Autor: Philippe Heule
Inszenierung: Felicitas Brucker
Bühne: Viva Schudt
Kostüme: Benjamin Burgunder
Musik: Patric Catani
Licht: HeidVoegelin Lights
Dramaturgie: Constanze Kargl, Ewald Palmetshofer
Mit Nicola Fritzen, Mario Fuchs, Florian Jahr, Nicola Kirsch, Leonie Merlin Young
Dauer: 90 Minuten ohne Pause
Ruine von traditioneller Schablonen-Familie
Gerade jetzt läuft hierzulande wieder ein Werbespot am Fernsehen, der eine Musterfamilie in der Küche zeigt; immer wieder hängt sich der Regisseur aus dem Off rein, um die Szene wegen falschem Text oder verfehlter Mimik wiederholen zu lassen. Genau die Situation hat der Schweizer Jungautor Philippe Heule zu einem eineinhalbstündigen Schauspiel ausgeweitet und auch das "Leben" der Musterfamilie auf eine Dauer von 15 Jahren ausgedehnt.
Zu dem Zeitpunkt, wo wir als Publikum dazu stossen, ist bereits kurz vor Produktionsstopp. Da enthüllt sich in den Aufnahmepausen zwischen den verschiedenen Spots, dass die professionelle Musterfamilien-Realität die realen Identitäten von Papa und Mama über die Jahre hinweg zerrüttet hat. Bei Tochter Moni und Sohn Maxi haben sich überhaupt nur Ansätze einer Identität entwickelt. Es geht uns wie dem TV-Zuschauer: Man sieht diese Leute immerzu als Familie, ein anderes Leben abseits des Sets kann man sich gar nicht vorstellen. Sie sind eingesperrt in der Werbe-Scheinwelt.
Zum Topos des Käfigs, wo sich wie bei Sartres "Geschlossene Gesellschaft" alle gegenseitig fertig machen, kommt der Thrill der Gespaltenheit. Mit Gelächter quittiert das Publikum das Pathos der Lebenslüge, wenn Mama, "hauptberuflich Schauspielerin", hervor stösst: "Meine Seele ist im Kino, während mein Körper Werbung macht." Moni ("Ich heisse nicht Moni!") will aussteigen. Aber wohin? Maxi will auch raus – und fürchtet sich gleichzeitig, wegen seiner (realen) Drogensucht rausgeschmissen zu werden. Vollends die paradoxe Bewegung macht Papa, der sich einbildet, sich in seine langjährige Werbespot-Ehefrau verliebt zu haben, die er eigentlich verachtet. Hilflos zappeln die Opfer in Heules Hölle, die eine heile Welt produziert.
Und diese ist fieser als bei Sartre. Denn der im Programmheft als "Schöpfer" bezeichnete Produzent, der sich nur aus dem Off meldet, ist als Marktgott ein Allesausbeuter. Da wird sogar der handfeste Mutter-Tochter-Krach, den wir anfangs für real halten, zur verwertbaren Performance, alles Menschliche also zum Produkt, das "Mama" und "Moni" frei Haus liefern. Zum Gaudi des Publikums übrigens, wenn etwa Mama die Haare der Tochter an der Kulisse festknotet.
Wenn man nun glaubt, den Kniff des Stücks begriffen zu haben, und dass die Hölle sich wohl ewig fortsetze, verkündet der "Schöpfer" das Aus der Produktionsfirma. In die allgemeine Irritation schickt Heule die Mephisto-Figur Moritz, die die "professionelle Familie" zunächst mit Einfühlsamkeit, dann diktatorisch zusammenhält und erneut auf Verwertbarkeits-Kurs bringt. Wie beiläufig gelingt es ihm, dem verängstigten Haufen, dieser Ruine von traditioneller Schablonen-Familie, fremdenfeindliche Sentenzen einzuträufeln und auch wieder zu entlocken: Die Angst im Neoliberalismus als Nährboden für Rechtspopulismus.
Soweit so politisch linear, wenn das Stück nicht vom Schwanz-Ende her sein Anliegen wieder selber anfrässe. Denn so leicht konsumierbar wie eine Sitcom, so versiert als Einzeiler-Pointen-Geballere ist das Stück geschrieben, dass sich das Publikum von Anfang bis Ende hörbar bestens unterhält. Dass das hohe Tempo der Wortduelle zuweilen in Hast überschlägt, gelegentlich Silben verschluckt werden, macht das Stück im Eindruck zusätzlich oberflächlicher als es ist. Die Inszenierung verfällt immer wieder in Klamauk.
Es ist zweischneidig, dass die hermetische Abgeschlossenheit der Werbewelt und der Werbefiguren keine Bruchstelle kennt. Inhaltlich verständlich, denn niemand kann da raus, heisst: Wir alle sind gemeint. Kommunikativ problematisch, denn wir sehen wohl, der Familie wird übel mitgespielt, aber es sind die Figuren einer schrillen und künstlichen Welt, die man fast zu leicht von sich weisen kann. Deren Untiefen man kaum erlebt. Es bleibt unklar, ob es eine andere, nackte Seite überhaupt gibt oder gegeben hat. Da bricht nichts Unerwartetes hervor.
Was einem aber wehtut, und woran das differenziert aufspielende Ensemble grossen Anteil hat: Dass die Figuren, durchaus sensibel, immer wieder nüchtern ihre Lage erkennen. Aber sie bleiben innerlich erstarrt wie der Hase vor der Schlange, können im mit Angst angetriebenen Produktionsdruck keine realistischen Ansätze zu Alternativen nennen, ja nicht mal wahrnehmen. Kommt einem das nicht bekannt vor, wenn man sich die Lage vieler Menschen ansieht?
So gesehen hat Philippe Heule einen unangenehmen und präzisen Bericht zum Zustand der globalen Nation gegeben. Schematisierend vielleicht, aber tauglich als Diskussionsanstoss, den man ernst nehmen muss.
5. November 2016