Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Der Mensch erscheint im Holozän"
Nach der gleichnamigen Erzählung von Max Frisch in einer Fassung von Thom Luz und David Heiligers
Eine Koproduktion des Theater Basel mit dem Deutschen Theater Berlin
Inszenierung: Thom Luz
Musikalische Leitung: Mathias Weibel
Bühne: Wolfgang Menardi, Thom Luz
Kostüme: Sophie Leypold
Licht: Matthias Vogel, Tobias Voegelin
Dramaturgie: David Heiligers
Mit Leonhard Dering, Judith Hofmann, Franziska Machens, Ulrich Matthes, Wolfgang Menardi, Daniele Pintaudi
Statisterie Theater Basel
Wenn sich das Gedächtnis im Nebel auflöst
Wer bislang Max Frischs Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" als unmassgebliches Nebenwerk abtat, könnte sie mit einem Vorstellungsbesuch als Meisterstück entdecken. In der Fassung des Basler Regisseur Thom Luz und des deutschen Dramaturgen David Heiligers funkeln Frischs hintergründige Miniaturen in ihrer tieferen Bedeutung: "Der Mensch bleibt ein Laie" oder "Die Zeit ist noch nie stehen geblieben, bloss weil ein Mensch am Fenster steht und nicht weiss, was er denkt". Vielleicht war Luz, der üblicherweise mit Vorlagen einen sehr freien Umgang pflegt, noch nie so texttreu wie zu diesem Frisch von 1979. Auch wenn der Text durcheinandergewirbelt nur ansatzweise dessen ursprünglicher Chronologie folgt.
Das Premiere-Publikum applaudierte am Ende so heftig, dass es im musikalischen Sinne fast weh tun konnte: In den 90 Minuten davor hatte Thom Luz das Auditorium in ein beinahe traumartiges Zwischenreich der meist leisen Töne versetzt. Nebel verhängen den Bühnenhimmel, die Lichtführung versetzt ganze Bühnenbezirke ins Zwielicht. Auf der bis zu den Grundmauern leeren Bühne ist ein Durcheinander von Kulissenteilen, mehreren Klavieren, ein fragiles Eisengestell wie provisorisch arrangiert. Klavierklänge, anfangs beschwingter Beethoven, später an Transzendenz gemahnender Bach, über Strecken aber nur Sekundenanschläge wie Wassertropfen, schaffen eine Stimmung freien Ausprobierens, Anspielens, gar des Eventuellen.
In diese Welt guckt mit dem Rücken zum Publikum dasitzend, wie der Wanderer von Caspar David Friedrich, der Herr Geiser. Staunend beobachtet er wie eine Fremdenführerin einer vorüberziehenden Touristengruppe die Geschichte der Tessiner Täler erzählt. Ist das wirklich meine Welt, scheint er zu fragen. War sie ihm je nah? Zunehmend wird sie ihm völlig abhanden kommen. Hatte Frisch den körperlichen und geistigen Verfall eines 73-jährigen Städters ausgebreitet, der im Tessiner Onsernonetal mit dem hermetischen Denken eines Intellektuellen sein Leben und Denken auf Werthaltigkeit abklopft, so fokussieren Luz/Heiligers auf den Gedächtnisverlust an sich.
Die eindringlichste Szene: Ins Halbdunkel gehüllt kehrt und wendet er sich hilflos nach seinen Zetteln auf dem Boden, auf die er Lexikon-Abschnitte über Geologie, das Tessin, die Saurier und anderes mehr gehäuft hat, während ihm das Ensemble wie ein griechischer Chor vorhält, was er alles vergessen hat: Dass er noch immer den Hut auf dem Kopf trägt, dass er den Tee, den er zubereiten wollte, bereits getrunken hat etc. Später wird er dem Chor, der ihn wie Schattenengel verfolgt, seine Lebenslüge "Wissen beruhigt" entgegenschmettern. Er glaubt selbst nicht mehr daran. Denn ihn treibt um, dass er sein nutzlos aufgehäuftes Zettelwissen, mit dem er seine Zimmerwände tapeziert hat, eben verlieren kann.
Fragte man sich während anderen Aufführungen von Luz zuweilen, wie es nun wohl weiter gehen würde, so hält er dieses Mal die Zügel knapper. Natürlich gibt es ausladende, musikalische Exkurse, Gesänge, Rezitals. Noch immer reizt er das Gelächter mit Spielereien wie der Nummer mit dem beweglichen Scheinwerfer, der sich aus Eigenlaune wie eine Tinguely-Machine zu bewegen beginnt. Und auch wie sonst reiht Luz eine Nummern-Revue aneinander.
Aber sie bildet dennoch zusammen mit den Text- und Musikfetzen ein durchsichtig komponiertes Ganzes, einen klaren Bogen, der einen in Spannung hält. Eingefügt ist dabei das berühmte Luzsche Spiel mit der Theater-Maschinerie. Hier verdichtet es die Geschichte um Herrn Geiser, wenn die Bühne wie von höherer Macht angetrieben dreht, wenn in eindrucksvoller Licht-Choreographie Scheinwerferkegel den Bühnenraum durchmessen oder – Geisers zunehmenden Gedächtnisverlust und Schlaganfall anmahnend – wenn die Klavierstücke immer karger werden bis hin zur Tonleiter.
Ulrich Matthes spielt nicht Frischs Herrn Geiser, er zeigt einen Mann ohne Eigenschaften, der unter seinen Ängsten etwa vor einem Hangrutsch leidet, der ihn in seinem Dorf begraben könnte. Der wie als letzte Variante die Würde behält, wenn er vom Chor abgelehnt wird, der Tessiner Lieder singt. Der sich aus Verzweiflung so etwas wie Offenheit bewahren will. Am Ende verschwindet er hinter Gazevorhängen, winkt ins Publikum.
Dass das nicht sentimental wird, davor bewahrt Matthes die stets klare Führung. Schlicht und beinahe zerbrechlich wirkt er in einer Welt, die übergross und letztlich auch mit Wissen nicht verstanden werden kann. "Die Ameisen legen keinen Wert darauf, dass man Bescheid weiss über sie". Geiser verliert nicht bloss den Bezug zur Welt. Er registriert jetzt auch bitter, dass er ihn nie hatte.
Die Aufführung musste zwei Mal starten. Beim ersten Mal kollabierte und übergab sich nach etwa fünf Minuten ein Mann im Auditorium. Der Mann wurde hinausgeführt, das aufgewühlte Publikum in die Pause geschickt. Beim zweiten Start fühlte man sich wie "vom richtigen Leben" aufgerissen. Es tat der Aufmerksamkeit keinen Abbruch.
28. September 2018