Theater Basel, Schauspielhaus
Uraufführung
"Tell The Truth"
Autor: Marcel Luxinger
Regie: Ronny Jakobaschk
Bühne: Tom Musch
Video: Peer Engelbracht, Sebastian Pircher, Serafin Bill, Raphael Zehnder
Mit Hanna Eichel, Dirk Glodde, Claudia Jahn, Benjamin Kempf, Katka Kurze, Barbara Lotzmann, Lorenz Nufer
Wilhelm Tell ist eine esoterische Führerin
Quälen sich denn alle so wie wir? Grübeln etwa auch die Italiener oder die Deutschen dauernd drüber nach, was ihre Nation zusammenhält? Jetzt hat das Theater Basel damit seine Schauspiel-Saison angefangen: "Tell the Truth", eine neue Tell-Saga, im Auftrag des Hauses erdacht von einem Ausland-Schwiiizer, auf die Bühne gestellt von einem Berliner Regisseur mit einem zu 80 Prozent aus Ausländern bestehenden Ensemble. Und das alles unter dem Übertitel "Splendid Isolation". Laut Wikipedia "ein Begriff aus der britischen Politikgeschichte im späten 19. Jahrhundert". Und bedeutet: "sich seiner Insellage bewusst zu sein, und sich diese zunutze zu machen." Soweit die Anlage.
Und das machte Autor Marcel Luxinger draus: Der neue Tell ist eine Frau, heisst Stella von Wille, und sie ergreift die Macht im Lande. Sie löst das Parlament auf, verwirft alle Verträge mit dem Ausland, tauft die Schweiz in GRR um: Gebirgsrebellenrepublik. Abschottung total: Die neuen Schweizer fuchteln glücklachend als Alpenguerilleros mit Karabinern umher. Der heutige Gessler ist der linke Globalisierungskritiker Jeremias Schattenfels, der in der SonntagsZeitung Kolumnen schreibt. Stella macht ihn in einem Fernsehduell (Polit-Talk als Hut-Grüssen?) lächerlich, bevor ihn der Boss einer PR-Agentur niederschiesst. Stellas Armbrust ist ihr Messianismus, ihre Pfeile sind esoterische-elitäre Slogans: Schöne Menschen müssen sich nicht entschuldigen. Wer glücklich ist, braucht keine Gesetze. Warum sind wir überhaupt so gegen die Gewalt? Ich sage immer die Wahrheit. Und Stella beschwört: Die Pfeilkraft der Wahrheit. Das Geschoss des inneren Wandels.
Stella sagt wirklich oft die Wahrheit und bringt uns Absprache-Demokratie-Verbogene mit ihrem Totalitarismus in Verlegenheit. Sie verspricht keine Verbesserungen und Lösungen, sie verheisst das Ende aller Nöte. Autor Marcel Luxinger war früher Werbe-Texter und Reiseführer: Mit seinem pointenreichen Text über das Traumland Schweiz, das er als Konstrukt aus Wünschen, Mythen und Manipulationen schildert, ist ihm eine witzige Polit-Satire über reale Zustände und Gegebenheiten des Landes geglückt. Einen der vielen Lacher provozierte er beispielsweise allein mit dem zweiten Namen des TV-Interviewers: Hütteling*!
Schon Stellas Entdeckung hat alles, was zu einem Mythos gehört. Die bankrotte PR-Agentur Täschlin & Katz sucht auf ihrem Geschäftsausflug Zuflucht in Stellas Bergrestaurant. Dort legt diese Kellnerin eine flammende, politische Bergpredigt hin: Die Berge seien der Hort der Wahrheit, die Städte aber Stätten der Lüge. Die PR-Leute sehen in der Begegnung mit Stella von Wille den Willen des Schicksals und wagen mit ihr als Projekt den Neustart.
Die naive Stella entfaltet aber bald eine unheimliche Instinktsicherheit. In Strategie-Stufe 1 der PR-Agentur schleudert sie ihre Video-Botschaften via Web ins Land. Stufe 2 leitet sie gleich selber ein, indem sie mit dem Präsidenten der "Partei der flexiblen Mitte" (auch dieser Name sorgte für viele Lacher) Jörg L. Müller schläft, um seine Partei zu übernehmen. Auf dem Höhepunkt von Stellas Macht jedoch enthüllt eine Journalistin ihre wahre Identität und dass ihr Pflegvater der Gründervater der PR-Agentur ist. Das Kartenhaus fällt zusammen. Der Schlamassel ist total. Der Mythos zerfällt und la Suisse n'existe pas?
Regisseur Ronny Jakobaschk hat Luxingers Fabel schnörkellos für die Bühne übersetzt. Und er zeigt mit Lust die Manipulationsmaschinen. Süsse Klänge durchfluten das Schauspielhaus, wenn Stella ihre Sätze flötet. Der Silberblick (ob gemacht oder echt) und das naiv-vergeistigte Marilyn-Monroe-Lächeln bezaubern in Nah-Einstellung auf dem Video-Screen. Mit einem lauten "Pflupp" zappen wir von PR-Agentur zu Hotelzimmer zu Fernsehstudio und retour. Alles ist immer live und real time und gleichzeitig oder gerade davor, aber Hauptsache, es läuft immer was auf den Kanälen. Und wenn die neuen Bürger der GRR freudelachend herumtanzen, so tun sie dies im Studio vor einer Blue-Screen-Wand: Berge, Schneegestöber und Seen kommen aus dem Computer. Am Ende wissen wir nicht mal sicher, was real passiert ist, und was bloss virtuell.
Die neue Ensemble-Schauspielerin Katka Kurze ist eine Ideal-Besetzung. Ihre Stella tanzte virtuos auf der Schnittstelle zwischen Despotin und gute Fee. Mehr noch: Ein ungreifbares Wesen mit doch ganz menschlichen Reflexen. Gute Figur machten auch der Neue Dirk Glodde als PR-Boss Frank Täschlin, aber auch die bereits in Basel bekannten Barbara Lotzmann als PR-Gründervater Sammy Katz und Claudia Jahn als Journalistin Tigsy Schneider. Das gute besetzte Schauspielhaus applaudierte lange und kräftig.
Zum Schluss noch ein Satz von Stella von Wille: "Ist es möglich, eine Gesellschaft zu revolutionieren, der es so gut geht, dass sie gar kein Bedürfnis nach Veränderung hat?"
* P.S. Ein Weltwoche-Kolumnist heisst Mark van Huisseling.
12. September 2009