Theater Basel, Schauspielhaus
"Der Gehülfe"
Schauspiel nach dem gleichnamigen Roman von Robert Walser
Inszenierung: Anita Vulesica
Bühne: Henrike Engel
Kostüme: Janina Brinkmann
Musik: Friederike Bernhardt
Licht: Cornelius Hunziker
Dramaturgie: Carmen Bach
Mit Friederike Bernhardt, Mario Fuchs, Pascal Goffin, Martin Hug, Katharina Marianne Schmidt, Friederike Wagner
Walser im kalten Niemandsland
Er musste es wohl loswerden. In nur sechs Wochen verfasste Robert Walser 1907 seinen Roman über seine mehrmonatige Anstellung und Leidenszeit als Gehilfen des Ingenieurs Carl Dubler. Geschildert wird schweizerisches tägliches Leben, wie die innerfamiliären Spannungen steigen, weil Dubler (im Roman: Tobler) für seine skurrilen Erfindungen keine Geldgeber findet. Noch bevor er Konkurs geht und die Familie auseinanderbricht, hatte Walser das Haus bereits verlassen. Der Roman besticht durch die präzis in ihren Ambivalenzen vorgestellte Titelfigur mit ihren Mühen zwischen Feigheit, gutem Willen und Aufrichtigkeit, im emotionalen Handgemenge der Verhältnisse und Eindrücke, zu sich selber zu kommen.
Derlei subtile Hintergründe kommen auf der Bühne nicht vor. "Werde ich taugen? Was leiste ich denn eigentlich?": Schon ab Beginn, wenn Mario Fuchs als "Gehülfe" Joseph Marti mit vor nervösem Eifer hochgezogenen Schultern über die Bühne stakst, ist er ein Verlorener, ein devotes Opfer, demzufolge ein Mitmacher im familiären Regime des unberechenbaren Cholerikers Tobler. An den schmiegen sich alle, mehr aus verdrängter Angst als aus Zuneigung, die Frau, die beiden Töchter, Marti, sein entlassener Vorgänger Wirsich, der einfach nicht von den Toblers wegkommt. Auch das andere Opfer, die ungeliebte Tochter Silvi, strahlt vor servilem Begeisterungseifer – und rotzt rappend ihre unterdrückte Wut mit Eminems "The Real Slim Shady" weg.
Aus Robert Walsers Prosa, die Hermann Hesse als "voll von Stimmungen" und bezaubernd durch "zart und absichtslos spielende Magie" besang, hat Regisseurin Anita Vulesica knalliges Pop-Theater mit Symbolbild-Überhang gemacht: Fast während des ganzen Abends fährt die Gesellschaft auf einem grossen Schwan-Wagen im Kreis (anfangs zu wagnerianischen Streicherklängen, als fühlte sich Tobler wie Ludwig II.). Schon bald kippt dem Holztier der Kopf runter. Einziger Referenzpunkt zum Textinhalt: Toblers Prahlerei, dass er es den zunehmend skeptischen Dörflern, den Bärenswilern, schon zeigen werde. Bald fallen die Rechnungen vom Bühnenhimmel, werden die Gläubiger am Telefon abgewimmelt.
Die Szenen, die Vulesica mit Dramaturgin Carmen Bach auswählte, fokussieren aber ansonsten auf die innerfamiliären Machtverhältnisse und die beziehungslose Verlorenheit der Figuren, verbannt in eine blendend weisse Bühnenwelt, ein konturloses Niemandsland von frappierender Kälte, umweht von Aphex Twins düsteren Ambientklängen. Unter die Haut geht die Szene, wenn sich unter Silvi plötzlich der Boden öffnet, sie ins Wasser fällt – und niemand hilft. Erst als sie sich nach quälend langem Kampf selber befreit, kommt die Mutter. Der Rettungsring in ihrer Hand wirkt wie Hohn.
"Ja, hassen, das ist das richtige Wort, es bezeichnet das Gefühl, das ich mit dem Kind (Silvi) verbinde, ausgezeichnet", expliziert die Regentin des Hauses dem Gehülfen. Bei Friederike Wagner wirkt es nicht als (eisklirrendes) Bekenntnis, sondern als zelebriere sie bloss ihre Eleganz. Gesellschaftlich isoliert und unter Stand verheiratet, ist sie darauf angewiesen, dass ihr wenigstens Marti (und Wirsich auch erotisch) zu Füssen liegt. Die Schauspielerin Vulesica erarbeitete bei ihrem Regie-Debut mit Profi-Ensemble auf das Sofortverständliche reduzierte Figurentypen mit eindeutigen Motiven: ein fester Rahmen, der detaillierte Ausgestaltung erlaubt. Da wackelt nichts. Alles ist trittsicher eingeübt.
Aber den Personen fehlt auch jedes Geheimnis. Im langen Mantel mit Zigarre schreit Toblers Outfit geradezu "Hochstapler". Frau Tobler im lila Rüschenkleid wirkt wie eine deplatzierte Adabei auf einer Haute Volée-Party und Marti im schwarzen Anzug wie ein Konfirmand. Die Hackordnung im Gefüge und die Parabel des Hochmuts: Das hat man schnell verstanden. Irgendwann lässt sich in dem Setting die Spannung nur noch mit zunehmender Grobheit steigern. Tobler schlägt die Leute und lässt sich bis zur Ohnmacht volllaufen.
Eine wesentliche Dimension des Romans bleibt unberührt. Unter Martis Zweifeln, ob er denn Kost und Logis bei den Toblers (Lohn kriegt er keinen) verdiene, liegt auch ein anarchistischer Trotz verborgen: dagegen, sein Leben, Denken und Fühlen von einem Angestelltendasein mit banaler Arbeit und blöden Chef-Untergebenen-Ritualen bestimmen zu lassen. Marti/Walser ringt mit sich, redet sich Begeisterung ein, und seine Seele stellt sich immer wieder quer, überhaupt lebenstüchtig zu sein. Fraglich, ob sich der Roman mit solchen Feinheiten für die Bühne eignet und der intimen Lektüre vorbehalten bleibt.
14. Dezember 2019