Theater Basel, Kleine Bühne
Uraufführung
"Das Weisse vom Ei" (Une île flottante)
Aus den Stücken "La Poudre aux yeux"
(Übersetzung: Elfriede Jelinek)
und "Un mouton à l’entresol"
(Übersetzung: Jürg Laederach)
von Eugène Labiche
sowie Selbstverfasstes und Zitate aus Texten von Lewis Carroll, Gert Jonke und Gustav Meyrink
Regie: Christoph Marthaler
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Mit Marc Bodnar, Carina Braunschmidt, Raphael Clamer, Catriona Guggenbühl, Ueli Jäggi, Graham F. Valentine, Nikola Weisse
Punktsieg für Marthaler
Machen wir heute mal ausnahmsweise ein Spiel? Ein Punktespiel unter dem Titel "Ich bin ein Delnon, holt ein Marthaler mich raus?" Ja? Denn gestern, als die Theaterleitung historisch schlechte Zuschauerzahlen präsentierte, sagte der zuständige Direktor Georges Delnon (gemäss BaZ), er habe den Eindruck von einer "Verweigerung" der Öffentlichkeit gegenüber dem Theater. Buh! So eine Aussage gibt natürlich zehn Strafpunkte. Wird es nun Christoph Marthaler, mit seiner neuen Inszenierung "Das Weisse vom Ei" schaffen, Delnons Strafpunkte aufzuheben?
Wobei zu sagen ist, dass Christoph Marthalers Einsatz für Delnons Strafpunkte-Abbau etwas regelwidrig ist. Denn der internationale Regie-Star aus Erlenbach ist die grosse Auslastungs-Ausnahme am Theater Basel. 89 Prozent sind im Schauspiel Basel absolut unüblich geworden. Das hat Marthaler in der letzten Saison mit seinem Singspiel "King Size" geschafft.
Los geht’s. Den ersten Punkt holt Marthaler schon bevor sich der rote Vorhang öffnet, und zwar für das Vertrauen das Publikums auf den folgenden Marthaler-Spass: Man glaubt es kaum, es mussten Extrastühle für die Premiere hingestellt werden, so gross war der Andrang (wann war das wohl das letzte Mal?).
Der zweite Punkt: Die stumme Figur der Friedelinde. Typ Mauerblümchen, dunkle Biederfrisur, weinrotes Biederkostüm (Samt) steht sie vor dem fast gleichfarbigen Vorhang. Zu den vereinzelt eingeworfenen tiefen Tröttönen eines Saxophons bewegt Catriona Guggenbühl (Gesicht: ausdruckslos) die Augen hin und her und verrät Innenleben. Die Schrift auf dem Vorhang klärt uns über den Fall auf: Sie sei in einer Nebenbemerkung stecken geblieben. Der erste grosse Lacher.
Einen weiteren Punkt sollte allein das Öffnen des schweren Vorhangs geben. Bei Marthaler ein Akt für sich. Es ruckt, stockt, zerrt, rupft. Gelächter. Aber geben wir lieber zwei für das Bühnenbild von Anna Viebrock, das sich dahinter öffnet. Die grosse Stube zeigt, dass deren Bewohner nach Kleinbürgermanier etwaigen Besuchern rücksichtslos alles zeigen müssen, was sie allenfalls Wertvolles haben, seien es die unpassenden Afrika-Masken, ausgestopfte Tiere, eine Harfe oder die Unmengen an Geschirrservices im Nebenraum. Die riesigen Porträtbilder (Familienmitglieder) an der Wand sind ein gelungenes Beispiel für die Kunst, nur den äusserlichen Typ, aber nie die Person darzustellen.
Gelegenheit für einen typischen Marthaler-Gag: Wie eine Besucherin ganz hingerissen von der realistischen Porträtkunst ein Bild von der Wand abnimmt, ist dahinter (im Loch) die abgebildete Person zu sehen. Riesenlacher. Extrapunkt.
Das Bühnenbild erzählt schon die halbe Komödie "La Poudre aux yeux" von Eugène Labiche: Die ehrgeizige Frau Malingear (Charlotte Clamens), Ehefrau eines erfolglosen Arztes (Marc Bodnar), will ihre Tochter Emmeline möglichst vorteilhaft verheiraten. Warum nicht an den jungen Anwalt Frédérique? Beide Mütter strengen sich nun an, ihre Familien als sehr reich erscheinen zu lassen. Aus dem Zuckerbäcker Ratinois wird so ein "Fabrikant".
Nächster Punkt für Marthaler: Statt uns mit der Verwirrungs- und Enthüllungskomödie um kleinbürgerliche Mitgiftmanöver, Lügen und das genretypische Happyend mit Liebesheirat zu traktieren, bietet er uns den Genuss einer Farce, in dem er eine Momentaufnahme dieser Welt in einen brutalen, aber lustigen Zerrspiegel stellt: Wie sich diese Leute im steifen Benehmen, Müssen, Zwingen abquälen.
Ein Minuspunkt: Die 120 Minuten haben auch Längen. Pluspunkt: Gerade auch mit Hilfe der Längen beweist Marthaler hier (erneut) seine Kunst, jeden Gang, jede Geste, jedes Augenrollen, jedes "Ah" oder "Oh" als plastischen Bühnenakt auskosten zu können. Alle Figuren werden hier mit heiligem Ernst gespielt, ohne Ironie draufzusetzen, so dass jeder merken kann: Wir alle sind so (ein weiterer Punkt). Zwischenstand: 7.
Auf 8 erhöht die Ensemble-Komödiantin Carina Braunschmidt. Sie spielt die Tochter Emmeline so schamlos hässlich und dümmlich, dass einem der Anblick und der Witz überall wehtun. Einlagen im Mund werfen ihre Oberlippe künstlich auf. In ihrem Dauerdusel fragt sie Frédériques Mutter, ob sie Frédérique schon lange kenne ... Schrecklich herrlich.
Von den Slapstickszenen bleibt der Kampf mit dem Stuhl von Raphael Clamer (Frédérique) und Marc Bognar (Herr Malingeart) wohl unvergesslich: Der permanent schultersteife Frédérique rutscht durch die Sitzfläche rein, kommt nicht mehr raus, kriecht unter das Pult, Malingeart hintendrein. Frédérique kriecht befreit hervor, Malingeart hat den Stuhl an. Szenenapplaus. Punkt 9.
Und Punkt 10 geht an die beiden Väter, wie sie sich vor dem Ehrgeiz ihrer Ehefrauen in kindliche Sehnsuchtswelten absentieren. Ueli Jäggis Ratinois hält lautmalerisch eine flammende Ansprache am Familientisch, dabei klingt alles nach tieftraurigem Unglück. Oder er vergisst sich vor seinem Weltempfänger. Die leichte Übergrösse seines Anzugs gibt ihm etwas verlorenes. Und Malingeart lässt sich von einer fliegenden Feder bezaubern. Oder er schnarcht so laut, bis ihm die Frau eine "Schlafgeräuschunterdrückungsmaske" aufsetzt. Oder er furzt vor Anspannung in den Fauteuil, bis seine Ehefrau vor den Ratinois die Demütigung aufheben will, indem sie behauptet, ihr Mann arbeite halt so viel, dass er sich abends jeweils entspanne.
Beenden wir hier das Spiel. Marthaler und das Ensemble hätten noch viele Punkte zu gut: Etwa für Graham F. Valentine und sein Kinderlied "Suzanne is a funny old man" (Szenenapplaus), für die Fülle an storydienlichen Gags, für die Detailliebe in der Durchführung des Konzepts, dafür auch, dass hier alles dem Ausdruck untergeordnet ist. Vor allem aber, dass Marthaler das Publikum für denkfreudig und humorvoll hält, und dass man es mit intelligentem Charme und präziser Arbeit – entgegen jeder Verweigerung - durchaus abholen kann. Dankbarer Applaus mit Bravorufen für die bislang beste Vorstellung der Saison. Hingehen!
22. Dezember 2013