Theater Basel, Grosse Bühne
"Graf Öderland"
Eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch
Eine Koproduktion des Theater Basel mit dem Residenztheater München
Inszenierung: Stefan Bachmann
Bühne: Olaf Altmann
Kostüme: Esther Geremus
Musik: Sven Kaiser
Licht: Roland Edrich
Dramaturgie: Barbara Sommer
Mit Linda Blümchen, Klaus Brömmelmeier, Steffen Höld, Barbara Horvath, Mario Fuchs, Julius Schröder, Thiemo Strutzenberger, Moritz von Treuenfels, Simon Zagermann
Musik-Ensemble: Thomas Byka, Michael Goldschmidt, Sven Kaiser, Sylvia Oelkrug
Unruhe im Fleisch
Ein biederer Staatsanwalt, der plötzlich als axtschwingender Graf Öderland durch das Land zieht und eine diffuse Revolte anzettelt: nachvollziehbar, betrachtet man das heutige Theater, dass Volker Lösch 2015 mit Frischs Moritat die Pegida-Demos auf die Bühne brachte. Das fast vergessene Stück (1951/56) hält noch weitere Angebote für Theaterleute mit Sinn für tagesaktuelle Bezüge bereit: etwa die Fremdbestimmtheit im öden Alltag oder der sinnlose Mord eines Bankangestellten, einfach weil ihn die Arbeit langweilte.
Aber Stefan Bachmann verweigert sich allem vordergründigen Thematisieren. Vor allem folgt er konsequent der Bezeichnung "Moritat": makaber, aber nicht realistisch, und gebrochen mit Frischs Dialogwitz. Die 95 Minuten verfliegen in einem hypnotischen Bilderrausch.
Ein kanaltiefer Riesentrichter von Bühnenbreite schafft eine Unterwelt, in der die Figuren wie zugespitzte Abziehbilder ihrer bürgerlichen Existenz hinunter tänzeln, torkeln, rutschen. Eine surreale Welt, in der die Klänge mit Überakustik an uns herangetragen werden. Keine realistische Lebenswelt, wie sie Frisch bebilderte mit der Wohnung des Staatsanwalts, der Gefängniszelle für den Bankangestellten, dem Regierungsgebäude für die Elite: Die sollen wir nur als Fantasie begreifen, von der erzählt wird. Die Wirklichkeit hier ist der Traum. Da enthüllen sich die wahren Dimensionen und Phänomene.
Gelegenheit, auf Grand Guignol zu machen: Das Blut spritzt, wenn Staatsanwalt Martin seine Frau Elsa und ihren Liebhaber, den Verteidiger Dr. Hahn, ersticht (wie in Träumen üblich treten sie später wieder lebendig blutverschmiert auf). Oder wenn Inge ihrem Vater das Eingeweide aus dem Bauch holt. Bei Bachmann ist es nicht mehr wie bei Frisch die Enge der bürgerlichen Schweizer fünfziger Jahre, gegen die Öderland mit der Axt aufbegehrt. Vielmehr ist es die Unruhe im Fleisch, die sich sinnlos und rauschhaft Bahn bricht.
Und diese Unruhe wird hauptsächlich angefeuert von Angst. Der Staatsanwalt/Öderland hat Angst, sein Leben zu verpassen. Aber auch der Innenminister und der Kommissar reagieren panisch und despotisch, wenn der Bankangestellte in der Zelle seine Erfahrungen mit dem Kapitalismus ausbreitet. Sein Anwalt hat Angst, dass er kein anwendbares Motiv zu dessen Verteidigung findet. Der Bankangestellte fürchtet die Alltagsöde in der Freiheit mehr noch als den Gefängnisaufenthalt. Mit der Angst als Triebfeder wirken Frischs eingestreute Gesellschaftskritiken nicht mehr als Publikumsbelehrung. Sie werden dynamisch in ihrem wahren Sinn herausgekehrt.
Das gleissende Licht lässt die Figuren im Kanal wie in expressionistischen Stummfilmen (Das Kabinett des Doktor Caligari oder Mabuse) erscheinen. Die metallisch-roten Haare von Öderlands Helferin Inge erinnern an Teenie-Horrorfilme. Verschmitzt lässt Bachmann den Hellseher in Nosferatu-Posse vorbeistaksen. Der Abend ist gespickt mit solchen Anspielungen. Düster dräuen Sven Kaisers Keyboards. Wenn Öderlands Aufständische ihre Äxte in den Bühnenboden hauen, rockt das Live-Ensemble im Rammstein-Stil.
Die Wahl Thiemo Strutzenbergers als Titelfigur verweist auf das Konzept. Kein Bundesbeamter, bei dem plötzlich der Schalter auf Amok kippt: Sein Staatsanwalt ist von Beginn weg die Unruhe selbst und gefährlich unberechenbar. In rasend schnellem Lauf sondert er dunkel Unterschwelliges ab. Frischs Hornbrille sieht auf seinem Gesicht wie ein aufgesetztes Accessoire aus, das nicht passt, nie gepasst hat. Seine unzufriedenen Revoltierer fertigt er mit eiskalten Sentenzen ab. Seinem Fahrer, der auf ihn zielt, dreht er kurzerhand die Pistole gegen den eigenen Kopf. Vor der versammelten Staatselite markiert er den Arturo Ui mit John Travolta-Tanzposen. Allein seine Darstellung ist das Eintrittsgeld wert.
Überhaupt glänzt das Ensemble mit einer präzisen und lustvollen Leistung, beispielsweise wenn die versammelte Polit-Elite (vor dem Umsturz im Regierungsgebäude) den Text singend skandiert. Ein toller Regie-Einfall, der vor Tempoverlust und einem Absturz in eine unpassende Bedeutungsebene rettet – und den man als Parodie auf Ulrich Rasches Inszenierungsstil sehen kann.
Bachmann kann es sich leisten, die Aufführung zerbröseln zu lassen: Man hört einfach auf und Licht an, Endes des wüsten Traums, der Umsturz ist abgesagt. Die Aussage des Staatsanwalts "Man hat mich geträumt" ist nur folgerichtig in Bachmanns Inszenierung. Keine war so inspiriert und gekonnt in der bislang nicht ganz glücklichen Basler Saison. Und sicher hat keine so viel Spass gemacht.
15. Februar 2020