Theater Basel, Schauspielhaus
Premiere
"Anna Karenina"
Bühnenbearbeitung von Armin Petras nach dem gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi
Regie: Bettina Oberli
Dramaturgie: Martin Wigger
Bühne: Alain Rappaport
Mit Martin Butzke, Dirk Glodde, Silvester von Hösslin, Zoe Hutmacher, MC Kutti, Florian Müller-Morungen, Cathrin Störmer, Judith Strössenreuter
Gefühle im Trockendock
Was sind denn grosse Gefühle heute? Und welche Berechtigung haben die? Vielleicht sind grosse Gefühle ja tatsächlich der Gegenentwurf zu unserer heutigen Gesellschaft, die grosse Gefühle nicht mehr möglich macht, weil die Funktionsketten so extrem ausgefeilt sind und wir total in sie eingebunden sind.
Dies schrieb Autor Armin Petras. Und legte uns dazu 2008 Tolstois tausendseitigen Liebesroman als dreistündige Bühnenversion vor, so steril, kalt, spröde, dass Tolstois Helden nur mehr als modellhafte Vorführpuppen in einer Versuchsanordnung über die Bühnenfläche, die ihre Welt sein soll, manövrieren. Immer wieder kippen sie beim Reden abrupt vom Dialog in die Schilderung in der dritten Person. So als erzählte jeder seine eigene Geschichte. So als würde diese Geschichte einen dramatischen Raum eröffnen. Und dabei wird durch den Effekt alles Leben in Literatur fest-, ins trockene Buchpapier zurückgeklebt.
Den Gegenentwurf, eben die grossen Gefühle, hat Petras eben so wenig riskiert wie das Schauspiel des Theaters Basel, das seine Fassung nun fünf Jahre nach der Uraufführung in einer gut zweistündigen Version – insgesamt linientreu – nachvollzog.
Und was soll die Frage, ob die heutige Gesellschaft grosse Gefühle nicht mehr möglich mache. Petras hielt sich genau an die Funktionsketten, deren zerstörerische Wirkung Tolstoi 1878 der damaligen Gesellschaft vorgelegt hatte. Hatte denn die mit einem hohen Beamten verheiratete Anna Karenina trotz den damaligen "Funktionsketten" keine grossen Gefühle für Graf Wronski? Und hat nicht die damalige Gesellschaft das "verbotene" Liebespaar vom öffentlichen Leben isoliert, das Liebespaar gesellschaftlich mit Zimmerarrest belegt? Wäre Anna Karenina heute nicht viel freier, befreiter für grosse Gefühle?
Wenn schon die Frage nach dem Heute von Petras selbst gestellt wird: Sie bleibt in Petras Text ebenso unangetastet wie in der Vorführung im Schauspielhaus. Die bekannte Schweizer Filmregisseurin Bettina Oberli ("Die Herbstzeitlosen") hat sich bei ihrer ersten Bühneninszenierung auf einen schwierigen Auftrag eingelassen. Ihre Aufführung ist weder ins Damals noch ins Heute verlegt. Eher schon stellt sie heute nach, was damals geschehen sein könnte.
Die Idee des figürlichen Nachstellens lässt nicht viele Möglichkeiten zur Vertiefung. Worum geht es denn eigentlich? Jedenfalls nicht um die gesellschaftlichen Umstände, ebenso wenig um die Schichtungen der Persönlichkeiten, auch nur in Andeutungen um Wodka und Bälle und zaristische Aristokratie. Vielleicht nur um ein Spiel auf kahler Bühne mit drei Liebespaar-Varianten?
Die Titelheldin und ihr Graf Wronski – im Text sind sie ausgeblasst bis auf ihre Trägerfunktion als Liebespaar. Zoe Hutmacher als Karenina kommt nie ins Schwitzen. Da ist weder die schicksalshafte Gefühlswucht für Wronski spürbar noch der Liebesschmelz für die bei Tolstoi so intensiv geschilderten Gefühle für ihren neunjährigen Sohn Serjoscha. Sie sagt auf, was es zu berichten gibt. Das ist alles. Ein paar harte Töne erhaschen wir, wenn sie sich gegen Ende in den Wahn steigert, Wronsky liebe sie nicht mehr. Dass sie sich am Schluss unter den Zug wirft? Da wurde uns niemand mit grossen Gefühlen weggenommen. Die tragische Dimension wird ihr nicht gegönnt.
Und Wronski (von Hösslin), der Miliärkarrierist, der Umtriebige, Gewandte, Ambitionierte, Verlorene? Hier ist er in jeder Hinsicht langweiliger und austauschbarer als der an sich steife und auf Etikette, Karriere und Besitz beschränkte Staatsbeamte Karenin (Glodde). Glodde darf sich emotional austoben. (Er tut es auch.)
Mehr Fleisch gibt es beim zweiten Liebespaar, Kitty (Strössenreuter) und Lewin (Butzke). Er, hier im zu grossen Strickpulli, der mit sich und Gott verstrittene, darf sich als Verlierer und als hässlich brandmarken, wenn ihn Kitty zunächst wegen ihrer Hoffnung auf Wronski, abweist. Aber irgendwann wissen wir dann das auch. Seinen Kampf missverstehen wir hier als Masche. Wenn sich die beiden dann erstmals küssen, erleben wir wenigstens Anziehung.
Das dritte Modellpaar: Dascha (Störmer) und Stefan (Müller-Morungen) – sie, die wütende Treue, und er, der Dauerbetrüger, sie bewegen sich völlig losgelöst voneinander, reden nur über Dritte über ihre Restposten ihrer Ehe.
Nein, langweilig ist der Abend nicht. Weil der Stoff, die Story zieht, dafür sorgt, dass wir dranbleiben. Ansonsten? Die Filmregisseurin hat ihre Momente. Sehr schön als Bild gerät etwa eine Begegnung zwischen Anna und Wronsky im abgedunkelten Nebenraum einer Abendgesellschaft: Der Vorhang, der die Bühne hinten begrenzt, zeichnet die Figuren der Abendgesellschaft als Schatten ab, sie selber wirken im Schattenriss atemlos ewigschön.
Als Diener, der die Liebesnöte seiner Herrschaft kennt, darf sich MC Kutti berndeutsch rappend hervortun. Seine Reime sind ungestalt und naiv – als müsste die Sprache vor den Dramen versagen? War das gemeint? Ein Abend mit vielen Fragezeichen. Wohlwollender Applaus. Nicht ausverkauft.
12. April 2013
"Leider nichts übrig geblieben"
Ich meine mich erinnern zu können, dass es in "Anna Karenina" um nichts anderes als um die Suche nach dem Sinn des Lebens geht. Tolstois Erkenntnis, die er Lewin in den Mund legt, lautet: Was ist der Sinn des Lebens? Gutes tun! Wenn ich Claude Bühlers Kritik lese, scheint mir davon in dieser Inszenierung leider nichts übrig geblieben zu sein. Schade.
Mirjam Jauslin, Muttenz