Theater Basel, Schauspielhaus
"Kaspar Hauser und Söhne"
Schauspiel von Olga Bach, Uraufführung/Auftragswerk
Inszenierung und Bühne: Ersan Mondtag
Komposition, Soundgestaltung: Max Andrzejewski
Kostümbild: Ersan Mondtag, Annika Lu Hermann
Video: Florian Seufert
Licht: Roland Edrich
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit Carina Braunschmidt, Benny Claessens, Elias Eilinghof, Michael Gempert, Vincent Glander, Urs Peter Halter, Cathrin Störmer, Thiemo Strutzenberger
Kaspar Hausers Mörderhaus
Gut möglich, dass man sich nach einer Weile fragt, ob man sich an die Aufführung im Basler Schauspielhaus konkret erinnert oder mehr an Bilder, die getrieben von irritierenden Gefühlen wie aus einem eigenen Traum hochsteigen. Nächstliegend für letzteres wären die Video-Filme Florian Seuferts, die wie Zwischenspiele die vier Akte unterbrechen.
Sie zeigen einen jungen Mann mit strubbeligem Haar, vor tiefschwarzem Hintergrund verstört in die Kamera blickend, in einem mit Stroh ausgelegten Verliess liegend oder wankend nachts auf einer Strasse stehend. Die Bilder wirken wie Erinnerungen an Momente starker Vergegenwärtigung. Extreme Close-Aufnahmen, auf riesiger Leinwand von Wangen, Händen, einem tickenden Uhrwerk, oft quälend lange, die Bilder und Töne mal überscharf, mal verschwommen: Kaspar Hauser als traumatisierte Figur, die keine "Übersichtstotale" kennt, vor der Fähigkeit zur Reflektion in die Welt geworfen.
Zur Groteske abstrahiert ist aber auch die Bühnenwelt: Eng an der Seitenwand ein Puppenstubenhaus, das aufgeklappt ein niedriges, grell bemaltes Interieur zur Sicht frei gibt. Vor einem Loch im Boden steht ein Törchen mit der Aufschrift "Keller" – im selben gebrochenen Schwung geschrieben wie die Lettern "Arbeit macht frei" am KZ Auschwitz. Über allem heben und senken sich mal freundlich, mal dräuend beleuchtete Wattewolken. Aus dem Off heulen die Wölfe, kräht der Hahn oder droht ein vibrierendes, tiefes Brummen. Die hochartifizielle Lichtregie unterwirft einen mit hintergründig dramatischen Stimmungsschwankungen. Wir erleben ein Zwischenreich – nicht immer ist klar, ob eine Szene als real zu werten ist.
Überhöht schliesslich die Figuren: Angezogen in einer Art Nacktkörperpyjamas mit Riesenbrüsten, -bäuchen und -hintern, gerieren sie sich wie infantile und hässliche Monstren – jederzeit bereit, sich jeder Regung hinzugeben, aber erbarmungslos eingespannt in die patriachale Hackordnung einer Handwerks-Kleinbürgerfamilie. Einer will durch ein hoch gelegenes Loch in der Hinterwand fliehen; aus der Traum(a)hölle gibt es kein Entkommen. Die Verlorenen intonieren den Gaspar Hauser Chante von Paul Verlaine: "Qu’est-ce que je fais en ce monde". Was tue ich in dieser Welt?
Es ist ein akustisch-visuelles Vollprogramm, das Regisseur Ersan Mondtag bei seiner ersten Basler Inszenierung auf das Publikum loslässt. Eine sehr "cineastische" Aufführung bemerkte eine Besucherin zu Recht. Autorin Olga Bach hat in ihrer dritten Zusammenarbeit mit Mondtag die Leidensgeschichte des wohl berühmtesten Findlings, Kaspar Hauser (1812-33), als komplexe Familiensaga im 20. Jahrhunderts neu erzählt, die sich über mehrere Kaspars und mehrere Generationen bis in die Jetztzeit fortsetzt. Gemeinsam wühlen sie lustvoll im emotionalen Angst- und Unbehagens-Gedächtnisfundus des Publikums – besonders im ersten Akt, der 1940 spielt.
Haustyrann Kaspar 3 lässt seinen Vater Kaspar 2, den "Simulanten", einen Schüttelneurotiker aus dem Ersten Weltkrieg, in eine Anstalt einweisen, wo dieser getötet wird. "Mörderhaus" wird die Witwe Judith schreien, die später aus Amerika zurückkehrt. Minutenlang dringen Schreie aus dem Keller, wenn der Vater Kaspar 4 verprügelt. Darein mischen sich Szenen überraschender Zärtlichkeit, etwa wenn die Mutter dem jungen, verschreckten Kaspar 5 eine Katze schenkt. Denn Bachs Personal ist weder besonders monströs noch pervers, sondern grob, verwahrlost und – sehr normal.
Die schroff geführten Dialoge, die Dramen um Geldstreit, Anteilnahme, familiäre Macht, sind öfters unterlegt von einem modernen Streichquartett: Bach hat ein dichtes "Kammerdrama" geschrieben. Allerlei Obertöne im Sinne von vielen Symbolen (Beispiel: die Hausers produzieren Bilderrahmen!) und Verweisen auf das Leben des historischen Kaspars schwingen mit. Deren Sprache – anfangs mit fehlenden Personalpronomen oder hart, ungelenkt gesprochenen Konsonanten – verflüssigt sich: Wir sollen das als Zivilisationsfortschritt im Wesen Kaspars wahrnehmen.
Nach der Pause, im dritten und vierten Akt, ab 1990, baut Bach die traditionellen Familienformen zunehmend ab, die junge Generation löst sich in der Gesellschaft auf. Ab da verliert auch die Aufführung an Kontur. Der Dialog gegen Schluss, wenn die jungen Kaspars hochqualitative, nachhaltig in einer Behindertenwerkstatt produzierte Holzfiguren an zahlungskräftige Kunden verkaufen wollen, wird zur Persiflage des aktuellen linksliberalen Wirtschaftstalks.
Wäre da nicht das saftige und präzise Figurenspiel des Ensembles, dem Mondtag immer wieder viel Zeit zur oft auch komödiantischen Ausbreitung gibt, wären da nicht die weiteren Inszenierungselemente, fühlte man sich etwas zuwenig ernährt. Letztlich wirkt das persönliche Drama über mehrere Generationen erstreckt wie eine Konstruktion für die Kunst.
Die über dreistündige Aufführung ist im gleichen Mass anregend wie anstrengend.
13. April 2018