Theater Basel, Dreispitzareal Tor 13
Uraufführung
"Utopia – vom besten Zustand"
Szenische Installation mit Texten von Thomas Morus 1516 bis Beatrice Fleischlin 2012
Eine Kooperation mit der Christoph Merian Stiftung und dem Stück Labor Basel
Regie: Florentine Klepper
Bühne und Projektionen: Bastian Trieb
Musik: Olivier Truan
Kostüme: Eva Butzkies
Mit Andrea Bettini, Urs Bihler, Thomas Douglas, Lorenz Nufer, Carolin Schär, Jörg Schröder, Anne Weinknecht
Jugendliche: Julie Burkardt, Birkan Cam, Melinda Karpati, Sophie Lardon, Ronja Römmelt, Ismaël Schmid
Spinnen essen auf dem Dreispitz
Drollige Titel dominieren derzeit den Spielplan. Letzte Woche: "Das Mansion am Südpol. Eine Immobilie." Nun folgte "Utopia – vom besten Zustand". Auf den Titelspitzenreiter müssen wir uns noch gedulden bis Juni: "Triptychon eines seltsamen Gefühls".
Auf das seltsame Gefühl aber muss das Basler Publikum nicht mehr warten. Das hatten wir heute Abend, im kalten Zollfreilager auf dem Dreispitz (Theater auf Aussenstation: siehe weiter unten).
Beginnen wir hinten, beim letzten Teil, die einzige klar durchgeführte Szene des Abends: Schauspieler Andrea Bettini in Kochschürze, das ist ein stimmiges Bild. Vor Töpfen und Tellerhauben performte er eine kleine Kochshow. Wir erfuhren: Bettini kauft aus Prinzip saisongerechtes, regionales Gemüse, und das Fleisch bei Metzger Pippo in der Elsässerstrasse. Er warf ein Hohrückensteak in die Pfanne.
Aber da der Fleischgenuss eine Umweltsünde sei, so fuhr er fort, rate die Welternährungsbehörde (als notwendige Utopie) zum Wechsel auf ... Insekten. Bettinis Zeigefinger: "Hochwertige Proteine." Zwar schaffte er es nicht, einem Skorpion den Panzer zu durchbeissen. Aber er hat eine Lösung gefunden: Den Mörser. "Pulverisierte Maden sind keine Maden mehr", rief er ins Publikum. Damit schickte er junge Damen mit Amuse Gueules ins Publikum: Spinnen-Crostini! Bettinis sympathische Show ist beim privaten Abendessen witzig, als Theaterszene jedoch nicht nahrhaft.
Die zwei Stunden davor aber bleiben kryptisch. Da wurde das Publikum im mittleren Teil angetrieben – wie im Gefängnishof – in einer dunklen Halle Runden zu drehen, an deren Wänden Baumlandschaften projiziert waren. Vogelgezwitscher und Synthesizergewabber erfüllten den Raum. Ging es da um eine Art Bio-Diktatur? Mittendrin vollzogen Schauspieler seltsame Bewegungen: Tanz oder gruppendynamisches Workshop-Rangeln? Dazu trugen sie rotes Wollkostüm, das ihre Körper derart verformte, als wären sie genmanipulierte Wesen aus einem Star Trek-Film.
"Trekkies" hielten auch Vorträge. Anne Weinknecht erzählte draussen vor der Halle, dass sie gerne schwimme. Hier draussen hätte sie am liebsten einen See mit einer Insel und einem Hüttchen drauf. "Dann könnten wir alle zusammen grillen und nackt baden." Sollte dies Invidualisierung thematisieren? Endlich sang sie noch ein bisschen. Es war kalt draussen. Der längere Vortrag liess sich von der Errungenschaft der spannenden Rede nicht beeindrucken.
Thomas Douglas, immerhin, gab einen Bericht aus einer glücklicheren Zukunft. Nicht im Mutterbauch sei er herangereift sondern im Container. Er stellte sich mit Bart und Lippenstift als "Inbetween" vor: Mann und Frau in einem, was aber in seinem Zeitalter zu keinerlei Diskriminierung mehr führe. Denn in der Schule lerne man "Anti-Unterwerfung": Jeder lerne seine Rolle abwerfen, um das kreative Potential zum "Glühen" zu bringen. Soweit so gut, warum aber sah Douglas so traurig und wütend aus?
Der Beginn des Abends führte uns zurück in die Bildwelt der achtziger Jahre. Gleissendes weisses Licht erfüllte die unwirtliche Halle. Schwarzhemden wie aus dem Film "The Wall" wiesen dem Publikum die Stühle zu. Lautes Stimmengewirr aus dem Lautsprecher plättete die Stimmung. Irgendwann bestiegen die Schwarzhemden eine meterhohe Bühne, um von weit oben herab weltanschauliche oder gesellschaftsutopische Theoriesätze von Platon oder Charles Fourier zu deklamieren. Es wird aber nicht klar, warum wer wann was sagt. Und was jeweils damit ausgedrückt werden soll. Eine junge Frau sprach dann auch noch von ihren 85D-Brüsten, ihrer Angelina Jolie-Nase und ihren Plattfüssen. Die Kurzvorträge enthüllten vor allem die unterschiedlichen darstellerischen Fähigkeiten. Zwei, drei der jugendlichen Darsteller hatte man hier zu schutzlos gelassen.
Ratlos liess einen auch der Auftritt eines Sessellifts zurück: Drei um ein Käsebrot zankende Leute vor einer Bergprojektion. Lorenz Nufer spielt einen krankhaft aggressiven Macho, der mit einer Vergewaltigung prahlt, und wie er dem Ehemann der Geschundenen in den Bürotisch pinkelt. Oder will er das alles nur tun? Wozu? Ich habe es nicht verstanden.
Der Utopie-Abend an diesem Ort war von der Christoph Merian Stiftung unterstützt. Wir zitieren von der CMS-Homepage: "Der Nicht-Ort: Als Industriezone hat der Dreispitz ausgedient. Hier soll als eines der grössten Entwicklungsprojekte der Schweiz ein neues Stadtquartier entstehen. Bevor die Hallen des alten Zollfreilagers abgerissen werden, unterstützt die Christoph Merian Stiftung Zwischennutzungen und lädt das Projekt 'Utopia' ein. Diese Phase zwischen Abbruch und Aufbruch, an der Schnittstelle von Altem und Neuem, in dem Moment, wo noch alles möglich ist, scheint uns der ideale Ort und Zeitpunkt für dieses Utopie-Projekt."
Der Abend zeigte nebst den erwähnten Schwierigkeiten, dass der Begriff Utopie in unseren Tagen düstere Bilder weckt und der positive Mut gelitten hat.
24. März 2012