Heute Pause und kein neuer "Seitenwechsel"
In jungen Jahren ist es verhältnismässig einfach, eine eigene Meinung zu haben. Es ist unbestritten, dass etwas so ist, wie es ist, oder so zu sein hat, wie es sein soll. Etwas anderes gibt es nicht. Erst mit den Jahren nehmen die Zweifel zu. Nichts ist so einfach, wie es aussieht. Der grosse Philosoph Michel de Montaigne sagte vor 400 Jahren, dass er von allem auch die Gegenseite sähe. Damit reihte er sich unter die grossen Skeptiker ein, deren Ziel es war, die Welt aus den Fesseln der geistigen Erstarrung zu befreien. Es gibt nicht eine Lösung, nicht eine Antwort, sondern viele.
Aber schon dieser Satz selbst verlangt, in Zweifel gezogen und hinterfragt zu werden. Weil jede alleinherrschende Meinung doktrinär ist. Doch dass jede Art von Meinung unbesehen richtig sein soll, kann auch nicht zutreffend sein.
Nun ja. Manchmal muss man seine Meinung gegen die Manifestationen des flatterhaften Zeitgeists gegen alle Anfechtungen verteidigen, aber manchmal muss man sie auch aufgeben, wenn es sich zeigt, dass sie unhaltbar geworden ist, und dies, ohne sich im einen Fall dem Vorwurf der Sturheit oder gar des Eifers und im anderen Fall der anpasserischen Haltung auszusetzen.
Ohne ein bewährtes Mass an Urteilsfähigkeit ist nichts zu machen. Daran scheint es jedoch oft zu mangeln. Man springt ins Wasser und ist erstaunt, nass zu werden. Mit dem Ausdruck der Überraschung soll die eigene Voreiligkeit oder Dummheit erklärt werden, und Dummheit ist bekanntlich lernbar. "Die Unerträglichkeit der menschlichen Dummheit ist bei mir zu Krankheit geworden", stöhnte der französische Schriftsteller Gustave Flaubert in seinen Briefen. "La bêtise" war das Thema, das ihn sein Leben lang begleitete. Um den Roman "Bouvard und Pécuchet" (posthum 1881), das erste postmoderne Werk der Literatur, zu schreiben, wühlte er sich durch 1'500 Bücher und klopfte sie auf den Schwachsinn ab, der darin stand.
"Die Willkür wird rationalisiert,
der Schein gewahrt."
Dass viele Menschen mit weniger als zwei Ideen prima durchs Leben kommen, ist eine fürchterliche Einbusse. Je weniger Ideen zur Diskussion stehen, desto unerbittlicher wird zugleich um sie gekämpft, als ginge es um Leben oder Tod beziehungsweise um Gott oder Teufel, und darum scheint es manchmal auch tatsächlich zu gehen.
Aber nicht nur diese Verbissenheit ist erstaunlich, sondern auch die Art, wie sich die Menschen dabei auf ihre Überzeugungen berufen, die sie sich schön zurecht gelegt haben, um sich abzusichern und stets in einem höheren Geist und Auftrag zu agieren. Seien es die politische Korrektheit, die Flexibilisierungs- und Konjunkturbelebungsmassnahmen, die Ewige Wiederkehr oder die Verteidigung der Ostereier als Familienfest, egal. Zum Beispiel hat uns in der Vergangenheit der Finanzplatz Schweiz böse in Klemme gebracht, jetzt werden neue übergeordnete Parolen gesucht, unter deren Flagge die Menschen in den heiligen Krieg ziehen können.
Die bärtigen Herren im Iran haben kürzlich entschieden, wer zur Präsidentschaftswahl zugelassen ist und wer nicht. Offenbar haben sie sich dabei auf Gott berufen, so dass ihnen kein Irrtum bei ihrer Entscheidung unterlaufen konnte und es nichts an ihrer eigenen Unfehlbarkeit auszusetzen gab. So werden willkürliche Entscheidungen rationalisiert und gerechtfertigt und wird der Schein gewahrt.
Mit diesen Überlegungen will ich zum Ausdruck bringen, dass ich mir für den heutigen Beitrag ein bestimmtes Thema vorgenommen hatte, aber im Verlauf des Schreibens gemerkt habe, dass das, was ich sagen wollte, nicht genug durchdacht gewesen wäre, wenn ich es doch geschrieben hätte. Eine alte Frage will mir keine Ruhe lassen. Wie kann man eine Sache vertreten und gegen ihre Widersacher verteidigen, ohne in die Falle der Rechthaberei zu treten und es denen gleichzutun, die unfehlbar, ohne Zögern und Zaudern, wissen, was korrekt ist beziehungsweise was gerichtlich verurteilt gehört.
Das ist der Grund, warum ich heute beschlossen habe, auf die Veröffentlichung eines neuen "Seitenwechsels" zu verzichten – auch wenn sie genau durch diesen behaupteten Verzicht doch erfolgt ist. Das ist die Ironie daran. Zum Lachen!
Ich warte also noch etwas zu und überlege mir die Sache unterdessen noch genauer. Für einmal möchte ich pausieren und nichts sagen, nicht recht haben müssen. Nach den Sommerferien aber geht es weiter, so kritisch und fröhlich wie möglich. Versprochen!
17. Juni 2013
"Passt so wunderbar"
Die Kolumne von Aurel Schmidt passt so wunderbar zu einem Zitat von Picasso, das ich soeben an einer Ausstellung in Berlin gehört habe: "Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über das selbe Thema malen."
Markus Sutter, derzeit Berlin
"Wie wohltuend"
"Für einmal möchte ich nichts sagen, nicht recht haben müssen." Wie wohltuend! Einfach mal die Nuancen zwischen Diktator und Wendehals ansprechen. Das ewige Dilemma, die eigene Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen abzugleichen, ohne den Boden der eigenen Meinung unter den Füssen zu verlieren. Es gibt Experten und Gurus, die immer genau wissen, was richtig und was falsch ist. Das hat meist nicht viel mit einem fundierten Standpunkt zu tun, sondern mit einem Überlegenheitsanspruch. Viele der von Stephan J. Tramèr angesprochenen Talkshows verkommen deshalb zum Showdown zwischen Rechthabern. Im privaten Bereich sieht es nicht besser aus. Wie es scheint, ist der Mensch eben immer noch ein Säugetier, das mehr auf Machtanspruch als auf Hinhören programmiert ist.
Esther Murbach, Basel
"Die Fähigkeit zum Hinhören geht verloren"
Auf diesen Gedankenanstoss hin sei es erlaubt, einmal mehr das Büchlein "Warum Denken traurig macht" von Georg Steiner zum Studium zu empfehlen. Meine persönliche Fragestellung lautet, wie Vernunft und Glaube, Hoffnung und Zweifel, Argument und Gegenargument an jedem neuen Tag Form erhält. Ich hoffe, dass das Denken im Rahmen des je eigenen Temperaments und der Begabung entsprechend bis zum letzten Schnauf in menschlich tragfähiger Weise als kritikfähige Wesen im Alltag zum Ausdruck kommt. Was beispielsweise Erich Fromm in einem Interview bedauerte ist, dass in dieser Gesellschaft die Fähigkeit und Bereitschaft zum Gespräch, zum Hinhören auf die andere Stimme verloren zu gehen droht. Davon zeugen viele Talkshows in den Medien. Wir wollen uns dennoch weiter bemühen, die Leidenschaft nicht preiszugeben, absichtslos, aber ohne auf dem bequemen Toleranzsessel Platz zu nehmen, Seitenwechsel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu praktizieren, um den anderen Standpunkt besser zu erfassen. Dazu gehört, aus dem Sessel aufzustehen und sich zu bewegen, um mit Perspektivwechsel und erweiterten Horizonten unerwartete Einsichten in die fragile Existenz zu erhalten.
Stephan J. Tramèr, Kunstschaffender, Basel
"Auch Politiker sollten gelegentlich so denken"
Ein genialer "Seitenwechsel". Wenn doch nur gewisse Politiker lernen würden, gelegentlich auch so zu denken.
Armin Studer, Frick