Von der Pflicht, ein Ungläubiger zu werden
In jüngster Zeit frage ich mich immer häufiger, woher es kommt, dass ich nicht mehr so denke wie vor zehn, zwanzig Jahren. Was hat sich geändert, was ist geschehen? Manchmal muss man seinen alten Ideen unbedingt treu bleiben, um nicht als Lump dazustehen, aber manchmal muss man sie aufgeben, wenn man sich nicht dem Vorwurf der Borniertheit aussetzen will.
Wer also zur Erkenntnis kommt, dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher, muss seine Orientierungen überdenken und neu definieren. Elementary, my dear Watson.
Wenn die Bevölkerung in der Schweiz wie in jüngster Vergangenheit jährlich um 120'000 bis 130'000 Menschen zunimmt, zu einem grossen Teil durch Einwanderung, dann ist es nicht erstaunlich, wenn der Punkt kommt, wo der Druck ein kritisches Mass annimmt. Es nützt dann nicht viel, sich auf die weltoffene Schweiz zu berufen. Das ist ein Begriff aus einer beschaulichen Zeit, die heute vorbei ist. Es geht jetzt auch um die Enge der Raumverhältnisse.
Aus Gründen der politischen Korrektheit wurden viele Probleme bisher schöngeredet und unangenehme und kritische Fragen umgangen. Jetzt kommen wir nicht mehr darum herum, Klartext zu reden. Zum Glück ist das seit Kurzem einfacher geworden. Toleranz war in der Vergangenheit ein hoher Wert. Heute unterliegt sie, wie der Schriftsteller Lars Gustafsson gezeigt hat, einer reversiblen Logik, die darin besteht, dass sie sich am Ende in ihr Gegenteil verwandelt. Toleranz wird immer häufiger zu einer Forderung und als Rechtsanspruch erhoben.
Minderheiten müssen und sollen respektiert werden, aber es gibt auch "einen regelrechten Despotismus von Minderheiten" (Pascal Bruckner, www.perlentaucher.de/artikel/3594.html), der die Mehrheitsgesellschaft lahmlegen kann. Die islamische Bevölkerung in der Schweiz bildet eine hermetische Gesellschaft, und Integration scheint zu heissen, dass Schweizer und Schweizerinnen sie gewähren lassen und sich an sie anpassen sollen – verkehrte Welt! Was die Lektion von Theokraten über Religionsfreiheit betrifft, kann sie kaum objektiv ausfallen. Aber lassen wir die Religion aus dem Spiel. Auch ohne Gott können die Menschen herausfinden, wie sie leben wollen. Die sozialen Differenzen sind schon problematisch genug.
Für die Dominanz von Minderheiten gibt es noch ganz andere Beispiele, etwa die Frau, die an der Sendung "Die Simpsons" im Schweizer Fernsehens Einwände zu machen hatte. Seither wird die weitere Ausstrahlung mit einem Warnhinweis begleitet. Jemand wird sich immer finden lassen, der etwas auszusetzen hat. Dann muss die halbe Schweiz Rücksicht nehmen. Man sucht Schuldige. Und findet sie meistens auch. So wäscht man sich selbst rein.
Zu den Mantras unserer Zeit gehört auch die Rede von der multikulturellen Gesellschaft. Sie ist das Ergebnis eines Glaubensbekenntnisses. Dabei ist der Multikulturalismus eine Degeneration der Begriffe und Distinktionen. Es gibt heute eine positive Diskriminierung, zum Beispiel, wenn die Aufklärung als Fundamentalismus verdammt wird und für Zwangsheiraten und Ehrenmorde im Namen des Kulturrelativismus Verständnis aufgebracht wird. Am Ende siegt der Obskurantismus über die Vernunft.
Natürlich gibt es so etwas wie eine Leitkultur. Hoffentlich ist das so. Gehen Sie mal nach Ägypten, China oder in den Iran, dort ist das keine Frage. Die Welt wird schon genug von Starbucks, Nokia, Google uniformiert und von der WTO in einen Supermarkt verwandelt. In Frankreich hat Staatspräsident Sarkozy eine Debatte über die nationale Identität ausgelöst. Was gibt es dagegen einzuwenden? Was Frankreich ist, ist eine berechtigte Frage. Und was ist die Schweiz, was bedeutet sie? Nur das nicht! Wer so fragt, macht sich verdächtig.
Die Widersprüche sind in der komplexen Welt von heute enorm, aber so zu tun, als gäbe es keine, ist ein gravierender Fehler. Eine anständige Meinung reicht nicht. Naivität ist gefährlich. Wir dürfen nicht so tun wie Herr Biedermann im Theaterstück von Max Frisch, der nicht sehen will, was um ihn herum geschieht, die Augen schliesst und meint, dass alles in Ordnung sei, weil er es nicht zur Kenntnis nimmt.
Es gibt viel nachzuholen und zu tun. Wir müssen die Aufgaben kreativ, selbstbewusst und lustvoll anpacken. Vor allem müssen wir Fragende, Skeptiker und Ungläubige werden und lernen, ohne Anleitung eines fremden Verstands oder einer übergeordneten Instanz zu denken. Nur dann kommen wir auf neue Ideen. Das schliesst die Kritik an den eigenen Missständen wie zum Beispiel den mit Staatsgeldern gestützten sogenannten freien Markt, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche oder den triumphalen Schwachsinn der Spass-, Sport- und Spektakelgesellschaft garantiert mit ein.
14. Dezember 2009
"Da kann man nur hoffen ..."
Da kann man nur hoffen, dass unsere Politiker – bei der Aussenministerin angefangen – diese Kolumne auch lesen und sich zu Herzen nehmen.
Armin Studer, Frick
"Fussballer mit Migrationshintergrund"
Seltsam nur, dass diese Diskussion betreffs "nationale Identität" etc. bei gewissen Themen Tabu zu sein scheint. Ich denke da an "unsere heroischen U17-Fussballhelden", die da Fussballweltmeister wurden, bei der bekanntlich zwei Drittel der Spieler einen "Migrationshintergrund" aufweist. In deren Glanz sonnt sich zur Zeit die halbe Schweiz, jeder wichtige und unwichtige Eidgenosse möchte dabei gewesen sein. Zu vermuten ist aber, dass die gleichen Leute blitzartig wieder die "Seiten wechseln" werden, wenn sich so ein junger Fussballer dann erlaubt, ins Ausland abzuwandern, um dort zu spielen. Wetten?
Bruno Heuberger, Oberwil
"Auch ich habe die Seiten gewechselt"
Danke, Herr Schmidt, für diese klaren Worte. Auch ich habe die Seiten gewechselt, und zwar schon vor längerer Zeit.
Maria Delfintzis, Zürich
"Pferd am Schwanz aufgezäumt"
Lieber Herr Schmidt, Sie zäumen das Pferd vom Schwanz her auf. Folge ich Ihrer Argumentation, so leiden wir heute an einer zu grossen Einwanderung, einer zu grossen Toleranz, an einer Dominanz der Minderheiten (übrigens: die Frauen sind keine Minderheit), an zu viel Multikulturalismus und an einer zu schwach ausgeprägten schweizerischen Identität.
Darf ich Sie erstens daran erinnern, dass es die Schweiz ohne Multikulturalismus und ohne die Toleranz, die diesen ermöglicht, nicht gäbe? Sie wäre an ihrer kulturellen Vielfalt schon mehrfach zerbrochen.
Darf ich Ihnen zweitens vorschlagen, die Kritik am Markt, an der Kommerzialisierung und an der Eventgesellschaft statt an den Rand ins Zentrum Ihrer Argumenation zu rücken? Es sind das Diktat des Marktes und eine neoliberale, marktgläubige Politik, welche gesellschaftliche Brüche, Risse und soziale Differenzen verursachen. Und es sind diese Folgen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die in breiten Bevölkerungskreisen ein Gefühl des Unbehagens und der Bedrohung hinterlassen. Stellen Sie die von den populistischen Brandstiftern teilweise mit Grund ins Feld geführten Probleme nicht in diesen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, gehen Sie ihnen auf den Leim. Die Ideen, die Sie entwickeln wollen, bleiben auf gefährlichem Grund kleben. Lösungen für bestehende Probleme finden sich nur, wenn man auch ihren gesellschaftlichen Ursachen nachgeht.
Ruedi Epple, Sissach
"Kollektives Immunsystem"
Das Immunsystem schützt unseren Körper davor, was auch immer ihn in seinen überlebenswichtigen Funktionenen beeinträchtigen oder schädigen kann. Vielleicht gibt es auch so etwas wie ein kollektives Immunsystem.
Corina Christen, Basel