Fröhlicher Pessimismus
Ich glaube nicht, ich zweifle. Das ist alles, was ich weiss oder auch nur zu sagen habe. Denn ich bin nicht einmal sicher, ob ich weiss, was ich nicht glaube. Was ich aber sage, sind nur Vorschläge oder Beiträge zur Diskussion, mehr nicht.
Überzeugungen sind ein Gräuel. Sie sind ein Versuch, den Fluss der Gedanken anzuhalten. Viele Menschen sind von etwas überzeugt, wenn sie nur eine Meinung darüber haben.
Kürzlich liess sich ein deutscher Geistlicher im Fernsehen vernehmen: „Es gibt keine Alternative zu Jesus.“ Früher gab es keine Alternative zum Marxismus, heute gibt es keine zum Markt. Keine Alternative heisst, dass das Denken aufgehoben wird.
Religionen sind institutionell unfehlbar, sie können keinem Irrtum unterliegen. Ich meine nicht die Art von Religion, die der Mensch als Versuch befolgt, für sich eine Orientierung im Leben, in der Zeit und im Universum zu finden, sondern Religion als Street Parade, als zur Schau getragene demonstrative Religiosität.
Wer glaubt, ist in der Regel felsenfest überzeugt, recht zu haben. Und wer recht hat, dem ist am Ende jedes Mittel recht. Beunruhigend wird es, wenn Religionen zu Kampfverbänden werden, wie das zum Beispiel bei den national-religiösen Israeli oder den islamischen Jihadisten der Fall ist.
In dieser Situation kommt es auf eine kritische Sichtweise um so mehr an. Sie entspricht einer europäischen Denktradition, die von der phyrrhonischen Skepsis über die Aufklärung zu neuen Formen einer säkularen Ethik führt (Laizität, Demokratie, individuelle Freiheitsrechte, ökologischer Imperativ). Auf fast alle Fragen gibt es zwei, drei, viele Antworten, ohne dass man dabei einem Relativismus erliegen müsste. Der grosse Michel de Montaigne sagte vor 400 Jahren, die Welt schlage sich „mit tausend Fragen herum, bei denen das Für und Wider gleichermassen falsch sind“. Er ziehe es daher vor, zu unterscheiden statt zu urteilen.
Ich bestimme mein Tun selber und überlege mir, warum ich etwas tue oder, aus persönlicher Verantwortung, unter Umständen nicht tue. Weil es manchmal klüger ist, etwas zu unterlassen. Für meine Entscheidung brauche ich weder Kirchen noch Propheten, Parteien, Experten oder Führer.
Heute scheint eine solche Haltung kaum mehrheitsfähig zu sein, und die Entwicklung geht in die entgegengesetzte Richtung. Eine Mehrheit der Menschen erwartet Weisungen, an die sie sich halten und die sie einhalten kann. Gehorsam entzündet eine kollektive Kraft. Die Stunde der fürchterlichen Verführer ist gekommen, der Doktrinäre, Fundamentalisten, Integristen, die sich überall auf der Welt gleichen. Sie haben etwas Verbissenes und lachen nie (oder nur dem Schein nach). Es gibt wahrlich allen Grund zum Pessimismus. Aber dann fällt mir ein, dass Ludwig Marcuse den Pessimismus als „Stadium der Reife“ bezeichnet hat. Es wird nicht besser werden, aber man hat gelernt, ohne Erschütterung damit zu leben.
Deshalb werde ich mir meine gute Laune nicht verderben und mich vom Lärm der Strasse nicht stören lassen.
Manchmal denke ich, dass ich ein fröhlicher Skeptiker und Pessimist bin und das keine schlechte Haltung ist.
22. August 2005
"Für viele Bürger bedeutet eine eigene Entscheidung grosser Luxus"
Seit langem habe ich den Eindruck, dass viele Zeitgenossen Entscheidungen so treffen, dass sie gegenüber ihren Mitmenschen ja nicht auffallen, also in der so genannten allgemeinen Norm bleiben. Das Gegenteil wäre ja abnormal, wer will sich schon so betiteln lassen. Ich bin aber überzeugt: Wenn dieselben Leute anonym bleiben könnten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entscheiden würden. Ein Freund von mir sagt auf meine Frage, wie es ihm gehe, immer das Gleiche: "Ja ja, man wird gelebt." Weg des geringsten Widerstandes oder Mangel an Courage? Die Resignation lässt grüssen, da für viele Bürger leider eine eigene Entscheidung ein grosser Luxus bedeutet, besonders in der heutigen Zeit. Fröhlicher Pesssimismus hat da keinen Platz.
Bruno Heuberger, Oberwil