Joachim Gauck und die Philosophie des Glücks
Der neue deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat kürzlich, dem "Spiegel" zufolge, Auslandeinsätze der deutschen Bundeswehr als unter Umständen "notwendig und sinnvoll" bezeichnet und die "glücksüchtige" deutsche Gesellschaft, die davon nichts wissen will, zur Rede gestellt. Gemeint waren offenbar die Einsätze in Afghanistan mit dem bisher katastrophalen Ergebnis.
Vielleicht kann man Gauck zugute halten, dass viele Menschen heute tatsächlich extrem uninteressiert, verwöhnt und anspruchslos sind. Wir leben in einer Party- und Fun-Gesellschaft, die kaum irgendwelche höhere Ziele kennt, für die sie sich einsetzen würde. Nur das persönliche Vergnügen zählt. Aber "Glücksüchtigkeit" hat in diesem Zusammenhang noch eine weitere Bedeutung, und wenn Gauck davon spricht, würde es sich dringend empfehlen, seine Aussage weiterzudenken.
Wenn ich "Glücksüchtigkeit" höre, fällt mir ein, wie die Politiker das Volksvermögen verschleudern und Steuergelder verwenden, um in Not geratene, also schlecht wirtschaftende Banken zu retten, während die Grosszahl der Menschen sich mit den Verhältnissen abfinden soll.
Politik besteht heute wesentlich darin, die Welt für die Reichen und Wohlhabenden einzurichten. Der solidarische Gesellschaftsvertrag ist aufgekündigt, die Eliten haben sich aus dem Konzept des Gemeinwesens verabschiedet. Wo liegt also die Glücksüchtigkeit?
In dieser Lage will Joachim Gauck den Menschen, die ebenfalls ihren bescheidenen Anteil am Glück einfordern, eine Predigt halten. Das ist nicht überzeugend. Natürlich wäre die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten erwünscht, aber die Menschen werden gar nicht gefragt. Jetzt, wo sich die Probleme weltweit zuspitzen, werden plötzlich Vorschläge laut, die nationalen Souveränitäten und die demokratischen Rechte einzuschränken, damit eine noch kleinere Minderheit die Sache regelt, die sie selbst eingebrockt hat.
Nicht nur in Putins Paradies, sondern auch in den westlichen Demokratien werden die Demonstrationsrechte eingeschränkt und die Zivilgesellschaft begrenzt. Als die Regierung in Quebec kürzlich beschloss, die Studiengebühren innerhalb von fünf Jahren um 75 Prozent zu erhöhen und die Studenten dagegen demonstrierten, wurden durch Notstandsgesetzgebung die Demonstrationsrechte stark eingeschränkt. So sieht die Welt 2012 aus.
Dies gesagt, sei ein Blick auf die lange Geschichte der Philosophie des Glücks getan. Seit dem Hedonismus ist das Streben nach Glück und nach dem guten Leben eine Konstante.
In der deutschen Philosophie schrieb Johann Gottfried Herder in seinem sprachgewaltigen Werk "Auch eine Philosophie der Geschichte" (1774): "Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt." Jede Nation bildet also ihren eigenen Glücksbegriff aus und versucht, ihn zu verwirklichen. Daraus ergibt sich die Vielgestaltigkeit der Völker und Nationen.
Später hat Immanuel Kant, auf Herder Bezug nehmend, die Frage gestellt, "ob es nicht ebenso gut gewesen wäre, dass diese Insel mit glückselichen Schafen und Rindern, als mit im blossen Genusse glücklicher Menschen besetzt gewesen wäre". Mit der Insel war Tahiti gemeint, das seit der Aufklärung (Georg Forster, Denis Diderot, dem Reisebericht des französischen Seefahrers Antoine de Bougainville) als Ort angesehen wurde, wo die glücklichsten Menschen lebten. Kant meinte aber, dass es mit dem Streben nach Genuss beziehungsweise Glück nicht getan ist. Gauck hätte die Aussage Kants voll und ganz unterschrieben.
Die wichtigste Stelle, wo der Begriff vorkommt, ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, wo von "pursuit of Happiness", von Streben nach Glück, die Rede ist. Aufgesetzt hat die Erklärung Thomas Jefferson.
In der Staatstheorie hat John Locke (1632-1704), der englische Vordenker der bürgerlichen Gesellschaft, als Aufgabe des Staates die Garantie von Leben, Freiheit und Eigentum gefordert, wobei er für das Eigentum gewisse Einschränkungen vorsah. Der Mensch darf sich nur soviel aneignen, wie er tatsächlich braucht. Soviel aber darf er. Daraus leitete Locke die Überlegung ab, dass die Natur ein Verlangen nach Glück ebenso wie eine Abneigung gegen Unglück in den Menschen gelegt habe, die in ihrer Gegensätzlichkeit seine Handlungen leiten.
Im Januar 1776 erschien in Philadelphia das 47 Seiten umfassende Pamphlet "Common Sense" des zu seiner Zeit einflussreichen radikalen Autors Thomas Paine (1736-1809) in einer Auflage von 120'000 Exemplaren innerhalb von drei Monaten. In der Flugschrift, die der amerikanischen Revolution den entscheidenden Impuls gab, erinnerte Paine an den italienischen Rechtsgelehrten Giacinto Dragonetti, der als verdienstvollste Aufgabe des Staats angesehen hatte, das Streben nach individuellem Glück zu fördern.
Diese Überlegungen müssen Jefferson zuletzt bewogen haben, in der Aufzählung der unveräusserlichen Rechte "Eigentum" zu ersetzen durch "the pursuit of Happiness".
Wir haben es also mit einer Idee von Glück zu tun, das ein Naturrecht ist, vielleicht sogar ein Menschenrecht. Es in Abrede zu stellen, ist nicht Aufgabe von Joachim Gauck.
23. Juni 2012