Kein Entrinnen, wenn alles Kommunikation ist
Haben Bücher eine Zukunft. Ja. Wer sagt das? Alle, die daran glauben, weil sie damit zu tun haben. Aber wer liest überhaupt noch Bücher? Das ist eine andere Sache. Die Frage müsste eher heissen, was denn gelesen wird. Die Nachdenklichkeits- und Lebenshilfe-Literatur boomt, andere Gattungen wie die Belletristik stehen unter dem Druck des Marktes.
Das Buch ist ein Teilbereich der Medien- und Informationsbranche, weshalb es zutreffender wäre zu überlegen, welchen Platz Bücher im Gesamten der Kommunikation einnehmen. Denn lesen, sei es, um sich zu unterrichten, sei es zur Unterhaltung, ist eine Tätigkeit, die nur bedingt auf Bücher angewiesen ist.
Wer sich auf dem Laufenden halten will, muss nicht zwingend alle sechs, sieben Minuten sein Smartphone konsultieren und nachsehen, was in dem kurzen Intervall seit dem letzten Mal geschehen ist, sondern sich auf den Modus Kontakt, Interaktion, Verständigung einstellen. Denn Kommunikation ist in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht weniger als in der organischen Welt das unverzichtbare Mittel zur Dynamisierung des Lebens.
Lesen heisst daher, mit der Welt in Beziehung zu treten. Es ist nicht nur ein Akt der cartesianischen Selbstherstellung (Ich kommuniziere, also bin ich), sondern in einem grösseren Zusammenhang auch eine Sozialhandlung, eine Verbindung mit der Welt in uns und um uns herum.
Kommunikation kann daher als ein Netz begriffen werden, durch das Ströme von Informationen fliessen. Sie übernimmt die Aufgabe von Übertragung, Verbreitung, Anschluss und Austausch von Nachrichten aller Art, die an einem Ort vorhanden sind und an einem anderen gebraucht werden.
"Die Botschaft an alle potenziellen Adressaten
heisst: Vorübergehend offline."
Jürgen Habermas hat Kommunikation auf ein sprachliches Feld reduziert, wohl weil Sprache die am besten überprüfbare Grundlage jeder Information bildet, also rational ist und infolgedessen der Rationalität zugänglich sein kann. Nur durch die Sprache kann Sprache beziehungsweise können ihre versteckten Absichten, Strategien und gewollten und ungewollten Irrtümer korrigiert werden. Wo Irrationalität herrscht, muss freilich jeder Versuch, sie zu überwinden, selbst durch Sprache, aussichtslos bleiben.
Die Gebrauchsanweisungen für eine Haushaltmaschine, die Aufschrift auf einem T-Shirt (To Night I Am Single), eine Waschmittel-Werbung (Weisser als weiss) sind sprachabhängige Informationen. Bei der Werbung auf Plakatwänden wird die Grenze zwischen Sprache und Bild beziehungsweise dem Wort als Bildelement diffus.
Verständigung muss daher über verbale Sprache hinaus auf jede nonverbale, zum Beispiel visuelle, akustische, situative Kommunikation ausgeweitet werden. Das betrifft zum Beispiel die Fotografie, die eine Aussage in bildlicher Form macht und Auskunft gibt, dass etwas geschehen ist, jedoch leider nicht sagt, was sich zugetragen hat. Dann muss doch wieder die Sprache herhalten.
Auch Verkehrsschilder (Fahren verboten), Museen (Hier gibt es etwas zum Anschauen), Denkmäler in der Stadt (Raum wird historisiert und Erinnerungsarbeit geleistet) tragen zur Information bei. Wenn ich am Ende des Eisenbahnwagens den Kondukteur sehe, weiss ich, dass es gleich Zeit wird, mein Billett zu zeigen. Das kommunikative Setting will es so. Das gilt zuletzt für jede öffentliche Versammlung.
Wo Menschen zusammenkommen, haben sie meistens einen erklärten Grund dafür (zum Beispiel um zu feiern, wenn ein Fussballspiel für die Anhänger erfolgreich zu Ende gegangen ist). Jede Manifestation im öffentlichen Raum ist ein kommunikativer Akt, bei dem es um eine bestimmte Sache geht (zum Beispiel ein Fest, eine politische Demo gegen Sparmassnahmen). Eine weitere Bedeutung von übergeordneter Relevanz ergibt sich, wenn der Anlass selbst (hier die stattfindende Kundgebung) sich als das Eigentliche des Geschehens herausstellt und zum Inhalt der Interpretation gemacht wird, so dass das Medium zur Botschaft wird, wie Marshall McLuhan gesagt hat.
Die latente Aussage kann dann vielerlei ausdrücken: Ein Anschlag hat mediales Aufsehen erregt; in der Öffentlichkeit gibt Fussball den Ton an; der Routineverlauf ist unterbrochen; es ist Donnerwetter etwas los in der Stadt.
Auch dieser Beitrag ist, unabhängig von der Tatsache, wovon er handelt, ein kommunikativer Akt im Hinblick darauf, dass er publik gemacht und gelesen wird.
Diese implizite Argumentation ist so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr auffällt. Kommunikation ist somit alles, was wir tun. Sie ist der Alltag.
Das bedeutet zuletzt, dass es keine Möglichkeit gibt, sich aus ihr herauszuhalten. Wir sind angeschlossen und mitten im Geschehen. Sollte einmal der Wunsch aufkommen, sich zurückzuziehen und für sich zu sein, wird noch der erwogene Rückzug selbst zu einem kommunikativen Akt. Er soll an alle potenziellen Adressaten die Botschaft verbreiten: Vorübergehend offline oder zum Beispiel: Bitte nicht stören, bin am Lesen – ein Buch oder eine Packungsbeilage oder etwas Derartiges.
16. November 2015
"Vorlesung von Karl Jaspers"
Kommunikation – ein Wort, dem ich 1958 erstmals in einer Vorlesung von Karl Jaspers begegnet bin –,
vorgetragen in geradezu feierlicher Weise. Inzwischen mag ich dieser Art von Weltverbesserung nicht mehr begegnen, bin ich doch gezwungen, mir täglich die Frage zu stellen: Rede ich noch oder kommuniziere ich schon?
François Fricker, Basel
"Wir sind Kommunikation!"
Ja, ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Wir sind Kommunikation! Das beginnt doch schon am Morgen, wenn wir überlegen, was wir anziehen wollen. Eher sportlich, eher elegant? Oder so, dass alle wissen, dass es uns überhaupt nicht kümmert, wie sie unser Outfit interpretieren. Welches Lokal wählen wir nach Feierabend, die gemütliche Beiz, die angesagte Bar. Klemmen wir uns den Blick unter den Arm oder die BaZ? Es wäre amüsant, hier weiter zu fahren. Im übrigen: Ich lese viel. Und ich lese viele Kriminalromane! Auch so eine Gattung Literatur, die es mühsam schafft, ehrenwert zu werden!
Judith Stamm, Luzern