Hoffentlich nicht die Umrisse einer neuen Mentalität
Unter Berufung auf die Meinungsvielfalt erhält die sogenannte Schöpfungslehre in den USA massenweise Zulauf von den so genannten Evangelikalen. Schulbücher sollen "von Darwin verseucht" sein und gesäubert werden, wobei Darwin als Begriff für Evolution steht. Der Konflikt zwischen beiden Ansichten schien seit dem Pariser Akademiestreit von 1830 überwunden, als die "Neptunisten" (Anhänger der Evolutionsidee) um Geoffrey Saint-Hilaire den Sieg über die "Plutonisten"oder "Vulkanisten" (Anhänger des "Kreationismus" oder der Schöpfungslehre) um Georges Cuvier davon trugen. Die Kreationisten behaupteten damals wie die Neo- und Taliban-Christen heute, Gott habe die Welt auf einen Schlag und den Menschen vor ungefähr 10‘000 Jahren fixfertig erschaffen.
In diesem Zusammenhang fällt einem der Fall Trofim Denissowitsch Lyssenko ein, der um 1935 in der Sowjetunion eine "marxistische Biologie" propagierte und seine Gegner als "Kulaken der Wissenschaft" und "Feinde des Kommunismus" beschimpfte.
Die Reaktionäre und Hinterwäldler gleichen sich überall. Aber wenn die Borniertheit einen Pakt mit der Religion eingeht, stehen finstere Zeiten bevor.
Die neue Engstirnigkeit in den USA wird als "Bewahrung konservativer Werte" bezeichnet. Alles, was im besten Sinn des Wortes liberal ist, wird verteufelt: Demokratie, die Idee des sozialen Ausgleichs, Weltoffenheit, Gebrauch des eigenen, nicht instrumentalisierten Verstands. Nicht selten steht die zum Teil anerzogene, zum Teil freiwillige Blindheit im Sold des Kapitals. Schwerwiegend fällt dabei in Betracht, dass die USA mit ihrem Project for a New American Century (PNAC) ihre militärisch gestützten Hegemonialansprüche unverblümt aussprechen (die Programme sind im Internet zu finden).
Vernünftige Diskussionen und Kontroversen werden in den USA immer seltener geführt, grossinquisitorische Einschüchterungen und ideologische Uminterpretationen nehmen zu. Die Meinungsfreiheit wird im Zeichen des Patriotic Act eingeschränkt. Auch die Zensurmassnahmen in den USA sind gut dokumentiert. Die Ignoranz über den Zustand der Welt begünstigt die Verdrehung von Recht und Unrecht, wie zum Beispiel die Rechtfertigung von Folter. Krieg und Kriegsdrohungen wiederum sind die Fortsetzung einer neuen Prüderie mit anderen Mitteln. Die Folge ist eine Vergiftung des geistigen und politischen Klimas in der Welt.
Wenn das die Umrisse einer künftigen Mentalität sein sollten, müssten wir uns warm anziehen.
Natürlich regt sich in den USA auch Widerstand. Michael Moore ist ein prachtvolles Beispiel. Andere gehören dazu, aber sie bilden eine verschwindende Minderheit. Im Augenblick lese ich das Buch "Alarmstufe Rot. Amerikas Wildwest-Kapitalismus bedroht die Welt" von Theodore Roszak, Historiker an der California State University Hayward (Riemann Verlag). Bei der Lektüre läuft es mir manchmal kalt den Rücken hinunter.
Mit Amerika-Hass hat diese Kolumne bitte nichts zu tun. Ich versuche nur, auf eine Entwicklung hinzuweisen, die sich abzeichnet und uns eines Tages auf dem linken Fuss erwischen könnte.
24. Januar 2005
"Eine Analyse, die nachdenklich macht"
Das ist so ein treffender Kommentar, dass ich hiermit - liegt's wohl am Whisky oder an der Altersdemenz? - von meinem eisernen Grundsatz "Niemals sollst du so tief sinken, dass du einen Leserbrief schreibst" leichten Herzens abweiche. Ich finde Ihre kurze "US-Analyse" wichtig und nötig, und ich hoffe, dass sie viele Leute nachdenklich macht. (Vor ein paar Monaten war ich kurz in Amerika, und ich konnte mir überhaupt keinen Vers darauf machen, warum sich diese wunderbaren Leute eine so verbockte Regierung gefallen lassen.)
Bernhard A. Scherz, Therwil
"In der Schweiz ist es der Blocherismus"
Verwandte Tendenzen sind doch auch in der Schweiz als Umrisse auszumachen: Blocherismus müsste man dem sagen, zwar weniger religiös, dafür aber streng national-politisch. Um die Worte von Aurel Schmidt zu gebrauchen: Ich versuche nur, auf eine Entwicklung hinzuweisen… Tja, die Geister die man rief …
Bruno Heuberger, Oberwil