Gegen eine reduzierte Sicht auf die Welt
Es ist angenehm, unter seinesgleichen zu weilen. Die Städte sind sauber und einladend, die Häuser hübsch angelegt, man kennt seine Nachbarn, singt im Männerchor mit und meint, auf der Weltbühne zu stehen, wenn man im Vereinslokal auftritt. Ist aber nicht so. Man ist nur in die kleine, örtliche Enge eingeschlossen, wie in eine Schuhschachtel.
Wenn alle Menschen das Gleiche denken, kann man viele Reibungen vermeiden und ruhig schlafen. Aber das Leben ist dann auch nicht sehr inspirierend.
Schlimmer noch. Wenn die Anregungen fehlen, verengt sich der Blick, man sieht nur das Eigene, nie das Andere, und ist mit sich zufrieden, jedoch auf die anstehenden Herausforderungen schlecht vorbereitet. Es entsteht ein sozialer Integrismus, an den neuerdings die sogenannten Sozialen Medien einen schlechten Dienst leisten. Wenn man immer nur unter Likern verkehrt und sich gegenseitig auf die Schultern klopft, was bleibt dann, auch mit neuen Buttons? Die Ausweitung des Mittelfeldes.
Die Hasstiraden, die man heute erlebt, zum Beispiel in den Reaktionen auf die medial verbreiteten Informationen, die Shitstorms, die neuen Ressentiments, das alles ist das Resultat einer reduzierten Sicht auf die Welt.
Es war schon immer schwierig, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, aber mittlerweile gibt es nur noch den Krakeel, der jede Kontroverse vereitelt. Von hundert Menschen haben hundert recht, manche zweimal. In Amerika ist gerade einer dabei, sich auszutoben und als Retter des Landes, als Messias, anzubieten.
"Wer sich auf die Herausforderungen
einstellt, für den beginnt
gerade ein neues Menschenzeitalter."
Wer das nicht will, sollte sich vielleicht erinnern, dass es auch noch eine liberale Weltoffenheit gibt, Luft zum Atmen und Denken, Spielraum für Ideen. Nur scheint die Entwicklung heute in die entgegen gesetzte Richtung zu gehen. Ob helvetische Abschottungsmentalität, Ultranationalismen mit religiösem Hintergrund wie in Israel oder Polen, Brexit, immer ist es das Gleiche: eine Rückbesinnung auf sich selbst, die einmal überwunden schien, aber soeben eine furchtbare Wiederauferstehung feiert, wie immer im Namen der Unfehlbarkeit der eigenen Überzeugungen.
Wie kann man, wie muss man sich in einer solchen Situation verhalten, ohne in den gleichen Fehler zu verfallen und die eigene Meinung zu verabsolutieren, aber auch wieder so, dass man sie nicht unbesehen aufgibt?
Die Idee der nationalen Souveränität ist heute, in der globalisierten Welt, eine Illusion. Niemand ist heute souverän in dem Sinn, wie dies der Begriff bis 1945 noch annehmen konnte. Grenzen sind zwar zur Verständigung unentbehrlich, aber sie werden zu Fiktionen, wenn sie dazu dienen, eine Scheinwelt am Leben zu erhalten. Das Wetter macht an der Schweizer Grenze nicht Halt; die Kriminalität auch nicht; grosse Schweizer Traditionsunternehmen und Banken sind im Besitz des globalisierten Kapitals; Resorts in den Alpen werden an ausländische Investoren verschachert. So sieht die Lage aus.
Die ideelle Retromaschine, die heute am Werk ist, ist teilweise auf diese Entwicklung zurückzuführen. Die Welt verändert sich rasend schnell. Das bringt Unsicherheit und Orientierungsdefizite mit sich, aber verbunden ist damit auch eine grosse Herausforderung, wenn die Menschen sich an die alten Stärken erinnern, die Europa gross gemacht haben: Neugier, Forschungs- und Wissensdrang, Offenheit für das Neue und Unbekannte. Für alle diejenigen, die das begriffen haben und damit umzugehen wissen, beginnt eben ein neues Menschenzeitalter.
Anpassung an den Wandel erfordert Aufmerksamkeit und Einfallsreichtum. Niemand weiss, wohin die Fahrt geht. Von den Entscheidungen, die heute getroffen werden, wird die Zukunft abhängen. Ein gemeinsames Projekt ist zu bewältigen. Das aber kann nicht mit einem alternativlosen oder normierten Denken erfolgen. Und gerade die Offenheit verlangt als Leitidee, gegen Zensur, politische Korrektheit und Obskurantismus verteidigt zu werden.
Wenn das Einerlei, die schwankend gewordenen Begriffe, die neue Unübersichtlichkeit auf die allgemeine Auflösung zutreiben, dann wird die Rettung der Singularitäten zur ersten Aufgabe.
Zu den praktischen Massnahmen sollte die Erhaltung der Verschiedenheiten gehören, der sozialen, kulturellen, ethnischen, religiösen Unterschiede und Eigenarten, aber auf einer gemeinsamen, gegenseitigen, gleichberechtigten Basis. Es gibt noch viel Neues zu entdecken und zu verstehen.
7. März 2016
"Ist das nicht sehr engstirnig?"
Aurel Schmidt ortet die Guten und Liberalen in den Städten und die Schlechten und Engstirnigen in den EU-Gegnern, der Schweiz und in den Dörfern. Ist das nicht sehr engstirnig und ist Aurel Schmidt vielleicht nicht selbst sehr weit von der Weltoffenheit entfernt, die er meint, propagieren zu müssen?
Alexandra Nogawa, Basel