Die Öde der fabrizierten Einheitsmeinungen
Die Krieger des Islamischen Staates ermorden einen 82-jährigen Mann, Khaled al-Asaad, den Konservator der Altertümer von Palmyra, auf bestialische Weise, weil er die Kulturgüter Syriens bewahren wollte, die sie zerstören wollten. Das Abscheuliche ist: Es geschah im Namen der Religion, des sogenannten Gottesstaates. Das müssen ein schöner Gott und eine schöne Religion sein.
Man kann an diesem Beispiel gut erkennen, wie destruktiv Überzeugungen sein können.
Die eigene, selbst zurechtgelegte oder durch eine höhere Instanz abgesegnete Meinung sanktioniert dann jede Scheusslichkeit. Als Folge entsteht eine geistige Wüste, in der nur ein Gesetz gilt, ein einziges, nämlich das eigene, dem alles Übriges sich unterzuordnen hat.
Die grosse Frage dabei ist, was Menschen, die so denken und handeln, zu ihrem Tun motiviert.
Die Antwort ist wahrscheinlich: Nicht viel. Die freiwillige Knechtschaft und die Angst vor der Freiheit, die der versteckte Antrieb sein können, sind in der Literatur ausführlich beschrieben worden. Man fühlt sich geborgen unter Gleichgesinnten und Parteigängern, also unter Menschen, die so denken wie man selbst denkt. Beziehungsweise man lässt Propagandisten, Prediger, Propheten und andere Vordenker entscheiden, welches der richtige Weg ist für die Gläubigen, natürlich zu deren eigenem Seelenheil. In der Meute ist man jeder Sorge, jeder Verantwortung enthoben. Wie angenehm
Machen wir uns aber nichts vor. Wir alle haben unsere blockierten Meinungen, unsere Überzeugungen und Prinzipien, über die wir nichts gehen lassen.
Wir reden vom Markt wie von der unbefleckten Empfängnis. Am Glaubenssatz vom Wachstum darf nicht gerüttelt werden, denn Wachstum ist das Ziel aller Bestrebungen, denen sich die Menschen bereitwillig unterwerfen oder unterworfen werden, damit die Musik in der neoliberalen Manege weiterspielen kann. Die EU, diese "ideen- und zukunftslose institutionalisierte Lobby", wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben sagt, wird als das "einzig denkbare Europa" abgewickelt. Eine Perspektive hat sie den Menschen, die nie nach ihrer Meinung gefragt werden, nicht anzubieten. In der Mitte und im Mainstream herrscht geistige Öde. Tote Hose, wie man sagt.
"Widerspruch ist für eine
offene Gesellschaft unerlässlich."
Es gebe "eine grosse Unzufriedenheit, die sich nicht im Wahlsystem ausdrücken kann", meint Slavoj Zizek, der philosophische Unruhestifter. Kein Wunder, blühen überall Ressentiment, Hass, Wut und breitet sich Ablehnung aus. Abweichende, das heisst meistens störende Meinungen erzeugen rote Köpfe. Um Konsens und Konformität zu fabrizieren, hat man Begriffe wie "Alternativlosigkeit" oder ein Ding wie "politische Korrektheit" erfunden. Umso mehr avanciert dafür jeder, der sich auf das Recht des Beleidigtseins beruft, zum Volkshelden der freien Meinung, die natürlich nur er allein vertritt.
Aber vielleicht kann ja in einem Menschenleben tatsächlich einmal der Fall eintreten, wo man zum Schluss kommt, seine Meinung gegen alle Anfechtungen der Mehrheit zu verteidigen. Zum Beispiel, wenn in der gegenwärtigen Krise einer unüberlegten Flüchtlingspolitik jede Warnung vor einem demografischen Umbau mit unabsehbaren Folgen zur rassistischen Gesinnung erklärt wird. Ich möchte aber ausdrücken können, was mich bewegt, ohne von Moralaposteln belehrt und bezichtigt werden. Ich kann mich natürlich irren. Sie sich auch.
Widerspruch ist aber für eine unvoreingenommene, offene Gesellschaft vorteilhaft, ja unerlässlich, weil er das Mass ihrer Freiheit anzeigt. In den finsteren Zeiten der Eindeutigkeit und Unumstösslichkeit ist die viel berufene Wahrheit dagegen zur Sprache der grossen und kleinen Egos geworden. Wo gnadenlose Fundamentalisten und Fanatiker sind, besteht kein Platz für Offenheit, Ambivalenz, Nuancen und ist fröhliches Debattieren ausgeschlossen.
Was tun in einer solchen Situation? Weiter den eigenen Weg gehen, beharrlich, aber unaufgeregt.
Denis Diderot, der kluge Kopf der französischen Aufklärung, hat einmal gesagt: "Man soll von mir verlangen, dass ich die Wahrheit suche, nicht dass ich sie finde." Weil es auf das Suchen ankommt. Und auf dem Sterbebett hat er der Überlieferung nach den Satz ausgesprochen: "Die Ungläubigkeit ist der erste Schritt zur Philosophie."
Die Ungläubigkeit, die Skepsis, der Zweifel, die Methode des Hinterfragens sind tief in der europäischen Philosophiegeschichte eingeschrieben. Nur wenn diese Haltung, die auch eine Form der Zurückhaltung ist, jeweils aufgegeben wurde, setzten die grossen geistigen Erschütterungen ein. Genau dies aber sind wir gerade eben im Begriff zu tun.
Ein Ungläubiger im Sinne Diderots zu sein ist eine Aufgabe für das ganze Leben.
21. September 2015