Die USA – unsere Freunde und Verbündeten?
Als der französische Aufklärer Marquis de Condorcet, einer der progressivsten Denker der Zeit, den Plan für eine "Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes" fasste, bezeichnete er die amerikanische Revolution als Vorbild für Frankreich und für Europa. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte ein Volk selbstbestimmt sein Schicksal in die eigene Hand genommen.
In der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wurde die Trennung vom Mutterland England proklamiert und das Recht auf "Leben, Freiheit und Streben nach Glück" ("pursuit of happiness") als unveräusserliches Gut festgehalten. Der Text der Verfassung von 1787 beginnt mit den Worten "We, the people": Wir, das Volk, haben beschlossen, die kurz zuvor gegründete Union zu festigen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, das Land zu verteidigen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren.
Das hohe Niveau, auf dem Thomas Jefferson, John Adams oder die Autoren der "Federal Papers" über den Staat debattierten, ist nie wieder erreicht worden. Demgegenüber stellen die Reden und Geisteshaltungen etwa der republikanischen Präsidentschafts-Kandidaten von heute einen Zerfall von höchster Peinlichkeit dar.
Was ist vom kühnen Aufbruch von 1776 geblieben? Wenn der Klimawandel von den Zeitgenossen in den USA als Märchen geleugnet wird, ist das kein Ausweis für politischen Weitblick. Wenn soziale Einrichtungen, zum Beispiel eine bezahlbare Gesundheitsvorsorge für alle, als Sozialismus verteufelt werden, dann haben wir es mit einer Form von Exorzismus zu tun.
Der wilde Westen sitzt immer noch tief in den Köpfen der Menschen. Es ist manchmal schwierig, den amerikanischen Individualismus zu verstehen. Einer, der ihn radikaler als viele andere vertreten hat, war der Transzendentalist Henry David Thoreau. Während er bei ihm jedoch aus einer philosophischen Grundhaltung hervorging, ist er heute zu einer Form von Egoismus verkommen. Und wenn Thoreau den Staat ablehnte, dann nicht, weil er in ihm ein Übel sah, sondern wegen dessen unethischem Verhalten (damals im Krieg gegen Mexico).
Was ist aus dem Land geworden, das sich auf christliche Werte beruft und gleichzeitig öffentlich die Folter rechtfertigt oder Todesurteile mit industrieller Routine vollstreckt, oft zum Gejohle der Menschen draussen vor den Gefängnissen?
Im gegenwärtigen Präsidentschafts-Wahlkampf stilisieren sich die Kandidaten zu religiösen Retter- und Erlöserfiguren hoch. Die Berufung auf Gott und Christentum stellt einen Gipfel des pharisäerhaften Dünkels dar. Der Gründer der Christian Coalition of America und republikanische Präsidentschafts-Kandidat von 2005, Pat Robertson, fand es in Ordnung, wenn der keineswegs über alle Zweifel erhabene venezolanische Präsident Hugo Chavez durch eine Geheimoperation ermordet würde. Mordgelüste hat es auch gegen Michael Moore gegeben.
Was ist aus dem freiheitsliebenden Land geworden, das den Iran angreifen will, notfalls durch Israel, und ihm mit Wirtschaftssanktionen droht, aber gleichzeitig alle Länder warnt, ihnen den Zugang zum amerikanischen Finanzmarkt zu versperren, wenn sie sich an den Massnahmen nicht beteiligen sollten. Sind das unsere Freunde und Verbündeten?
Dass die Anwendung amerikanischer Gesetze auf Gebiete ausserhalb des amerikanischen Territoriums ständig ausgeweitet wird, zum Beispiel bei der sogenannten Terrorbekämpfung, ist eine Politik, die von den USA schon lange verfolgt wird. Das richtige Vokabular scheint jedes Vorgehen zu rechtfertigen. Mit welchem Recht spielen sich die USA eigentlich als Verteidiger der Freiheit auf?
Und was ist schliesslich aus dem Land geworden, das aus einem einseitigen Akt der politischen Selbstbestimmung hervorgegangen ist, aber als Weltmacht Palästina daran hindert, ebenfalls seine politische Autonomie zu erlangen und, nach der Aufnahme Palästinas in die Unesco, seine Beiträge an die UN-Organisation zur Strafe kürzt? Weitere Einwände können wir uns ersparen.
Vielleicht werden sich die Menschen in Amerika, die nicht unter dieses Urteil fallen (es gibt sie), gegen das schlechte Ansehen wehren, das die anderen, die es betrifft, von dem Land geben. Besonders sichtbar haben sie es bisher nicht getan. Das könnte an einer veränderten Medien- und Informationsstrategie liegen. Aber das ist ein anderes Thema.
28. November 2011