Wer alles weiss, hat nichts begriffen
Neugier ist ein fabelhafter Antrieb für die Entstehung des Neuen. Was haben die Phänomene, denen wir begegnen, zu bedeuten? Was steckt dahinter? Was wissen wir noch nicht? Fragen dieser Art erzeugen eine Unruhe, die sich als Energie manifestiert und den Fortschritt in Bewegung hält. Das ist eine Aussage, mit der man etwas anfangen kann oder nicht. Beweisen kann man sie nicht, wie so vieles andere auch nicht.
Die Welt wandelt sich; alte Erkenntnisse führen zu neuen; wir müssen schnell laufen, um Schritt zu halten und den Entwicklungen zu folgen. Ob wir dies aber auch wollen, das ist ein anderes Thema.
Seit der Antike ist das Fragen eine Methode der Erkenntnisgewinnung. Der französische strukturalistische Anthropologen Claude Lévi-Strauss machte den Unterschied zwischen "kalten" und "heissen" Gesellschaften. Die kalten entwickeln sich beharrlich, die heissen rasant, aber keine ist stationär, alle sind kumulativ, durch Austausch und Anpassung.
Dass die westlichen Gesellschaften zu den schnell sich entwickelnden, vorwärts drängenden, "heissen" gehören, liegt nahe. Sie haben sehr viele traditionelle Werte aufgegeben und andere übernommen. Ich würde gern den Unterschied von Lévi-Strauss erweitern und von suchenden und weniger suchwilligen Gesellschaften ausgehen und versuchen zu verstehen, was sie zu ihrer Einstellung veranlasst, ohne Bewertung der einen oder anderen Form. Es gibt Distinktionen, auf die es ankommt.
Dass die Religionen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, ist nicht ausgeschlossen. Die Welt ist, wie sie ist; Gott hat sie so erschaffen; dagegen gibt es nichts einzuwenden. Es ist ein wenig so wie mit Google. Was die Suchmaschine anzeigt, ist längst in allen Details entschieden und gilt unumstösslich. Es ist ein vorfabriziertes Weltbild, das vermittelt wird.
"Geistige Freiheit bedeutet, nicht immer
mit allem einverstanden zu sein."
Fundamentalisten, Ideologen, Dogmatiker & Co, nicht nur im religiösen Sinn, wissen alles. Sie vertrauen darauf, was ihnen in den frühesten Tagen beigebracht wurde. Das genügt; alles andere erübrigt sich. Zweifel sind ausgeschlossen. Folglich muss alles, was nicht mit ihnen übereinstimmt, falsch, wenn nicht des Teufels sein. Sie halten sich für tugendhaft und meinen, dass daher alle anderen auf Torten und Wein verzichten sollen, wie es in Shakespeares "Was ihr wollt" heisst.
Religionen sind nicht neugierig. Gott ist in einem deklarierten Sinn die Erklärung für alles. Das genügt; Irrtum ausgeschlossen; Unfehlbarkeit garantiert.
Am schlimmsten sind Menschen, für die es ausgeschlossen ist, sich die Welt anders vorzustellen, als sie es tun. Geistige und politische Freiheit besteht jedoch genau darin, nicht alles in Ordnung finden und nicht mit allem einverstanden zu sein.
Die Frage, die sich hier anschliesst, lautet, ob es denn wünschenswert sei, dass alles offen sein und über alles debattiert werden soll. Dazu wäre zu sagen, dass nur die offene Gesellschaft in der Lage ist, durch einen Prozess der klugen Auseinandersetzung Fehler zu erkennen, zu korrigieren und sich so zu erneuern. Fehlt der Modus der Falsifizierbarkeit, sind die Gesellschaften zum Erstarren verdammt.
Ohne Gott leben ist eine viel grössere Aufgabe als sich auf ihn zu berufen. Der US-amerikanische Astrophysiker Steven Weinberg hat den Forschungsdrang als Ermutigung für den Menschen in seinem schwankenden irdischen Dasein bezeichnet. "Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde", schrieb er. Und der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat die Erforschung der Schönheit der Natur als Angebot der Selbstbestimmung des Menschen vorgeschlagen. Ich denke, dass man damit gut auskommen kann.
Wir leben in einer aufregenden Zeit. Ich würde gern mehr wissen, zum Beispiel was im Bereich der Quantenphysik geschieht, von der ich leider nichts verstehe ausser vielleicht ihre paradoxalen Gesetzen. Und auf die kommt es an. Denn Paradoxien sind eine ungeheure Inspiration für das Denken.
Auch die Postbiologie ist eine Entwicklung, die sich in ihrer epochalen Bedeutung vielleicht nur mit der Zellteilung vergleichen lässt und die Menschheit in eine Zukunft führen wird, die noch unvorstellbar ist, aber unausweichlich kommen wird. Wird der Mensch zur Maschine oder diese zu jenem? Die Forscher sagen, dass es eine Kooperation zwischen beiden geben wird. Das sind eben so beklemmende wie phantastische, furiose Aussichten. In der Logik der Entwicklung können noch viele Überraschungen eintreten. Davon möchte ich soviel mitbekommen wie möglich und nicht meine Tage wie ein leerer, ausgedienter Koffer in einer Dachkammer fristen.
5. September 2016