Constables Wolken, Gauguins Farben und der Wunsch, mehr zu wissen
Es kommt in der letzten Zeit manchmal vor, dass ich anfange, langsam zu verstehen, was für ein wunderbares Ganzes die Welt bildet (die Welt sei alles, „was der Fall ist“, hat Ludwig Wittgenstein gesagt); wie die Teile zusammenhängen; wie Ideen sich im Lauf der Zeit formiert haben; oder wie wissenschaftliche Erkenntisse, von der Naturphilosophie des Aristoteles bis zu den Experimenten von heute, Fortschritte gemacht haben, zum Beispiel in der Quanten- und Stringheorie, die ich mit ihren paradoxen Ergebnissen, soweit ich sie verstehen kann, mit Erstaunen zur Kenntnis nehme. Was für Schlussfolgerungen können daraus abgeleitet und müssen daraus gezogen werden?
Manchmal komme ich mir wie Wagner in Goethes „Faust“ vor, der zwar vieles wusste, aber alles wissen wollte. Das ist heute ausgeschlossen. Je mehr ich weiss, desto mehr kann ich die Lücken erkennen, die noch ausgefüllt werden müssten, es aber kaum je werden. Weil sich bis dann wieder neue Lücken aufgetan haben werden ...
Zum Beispiel möchte ich mehr über die Hintergründe der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wissen, und was zuvor, am 25. April, an der North Bridge in Concord, Massachussetts, geschehen ist und wie George Washington den Delaware überquerte und die Franzosen den amerikanischen Kolonisten zu Hilfe eilten und wie sich daraus ein Zusammenhang von amerikanischer und französischer Revolution ableiten lässt. Auch möchte ich das Denken des deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte besser kennen. Es steht als Nächstes auf meiner Agenda. Die Wolkenbilder von John Constable wiederum bilden eine eigene Geschiche, ebenso wie die Bedeutung der Farben von Paul Gauguin, dem in Tahiti die Farben zum Malen ausgingen und der mit Rosarot und Orange auskommen musste, bis Nachschub eintraf. So ist der Symbolismus entstanden: Durch eine Fehlinterpretation aus Mangel an Detailkenntnissen!
Dann denke ich an ein paar Tage, die ich in einem tibetischen Kloster verbracht habe oder in einem Zelt während eines Wintersturms auf Baffin Island, und versuche, mir modellartig vorzustellen, wie die Menschen mit ihren Mythen, Sitten, Festen, Werkzeugen, Kunstwerken, Essgewohnheiten, Lebensformen sich die Welt zurecht gelegt haben, um sie besser interpretieren zu können, in der Arktis, in den Tropenwäldern, in den nordamerikanischen Prärien.
Je mehr wir wissen, desto schwankender erscheint alles. Aber nur das unablässige Suchen kann dem Menschen einen Hauch von „tragischer Würde“ im Ozean der Offenheit verleihen, wie der amerikanische Kosmologe Stephen Weinberg in seinem Buch „Die ersten drei Minuten. Der Ursprung des Universums“ gesagt hat. Das heisst: Aushalten, durchstehen, nicht aufgeben. Das ist eine Einstellung, die mir gefällt.
Doch suchen wonach? Das ist eine falsche Frage. Es geht nicht um ein Suchen nach etwas, sondern um ein Suchen an sich und schlechthin. Um ein Suchen als Lebensenergie, Stolz, Menschenwürde. Als Grund zu Jubilation. Denn wer seine Neugier aufgibt, ist im Begriff, sein Leben zu verspielen.
7. Februar 2005
"Zwei Zitate zum Thema 'Suchen'"
Grüezi Herr Schmidt, seit vielen, vielen Jahren bin ich ein aufmerksamer Leser Ihrer Essays. Einige davon habe ich sogar aufgehoben. Da ich eben aus den Ferien zurückkomme, muss meine Reaktion zum Thema „Suche“ kurz ausfallen.
Dazu kommen mir zwei Zitate von zwei so unterschiedlichen Menschen wie Theresia und Picasso in den Sinn:
"Gott schliesst keine Tür, ohne eine andere aufzumachen. Seitdem ich nichts mehr suche, führe ich das denkbar glücklichste Leben." (Theresia)
"Ich suche nicht, ich finde." (Picasso)
Pius Helfenberger, Basel