Wie wenig Wachstum reicht zum Leben aus?
Wachstum ist zu einer idée fixe im allgemeinen Diskurs geworden, zu einem Fetisch-Begriff, der viel verspricht, nichts hält und das Denken verwirrt, aber jeden Widerspruch ausschliesst. Wachstum suggeriert einen natürlichen Prozess, aber der Volksmund weiss genauer als die Ideologen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Wachsen heisst leben, aber was lebt, muss auch sterben, weil alles, was nicht stirbt, nicht gelebt hat. Wenn es zur Wachstums-Idee eine Alternative geben soll, dann müsste sie in Zirkulation, Wandlung und Erneuerung bestehen.
Wir haben längst nicht nur alles, sondern viel zu viel von allem, während andere zu wenig haben oder gar nichts. Das ist der Skandal heute. Da die Globalisierung der grösste Wachstumstreiber ist und sie Ungleichheit erzeugt, sollte die Lösung nicht nur Umwandlung heissen, sondern auch Verteilung, und zwar eine halbwegs gerechte, damit alle an den Gütern der Welt partizipieren können.
Um nicht in ein Gratis-Moralisieren zu verfallen, bietet es sich an, die "tugendhafte Dummheit" (Friedrich Nietzsche) von Wachstumskonzepten und -ideologien kritisch zu untersuchen.
Unser Denken ist geprägt von der Idee des "Mehr". Mehr Handys, mehr Palmöl, mehr Strassen und Staus, mehr Lärm, mehr Überwachung, mehr Apps, die alles, was wir denken und kommunizieren, aufzeichnen und jeden Schritt tracken, so dass die grossen Registrierungsmaschinen des gesellschaftlichen Lebens bereits heute wissen, was wir morgen vorhaben und uns heute schon die passenden Angebote dazu unterbreiten.
"Für mehr Wachstum
ist die Welt zu klein geworden."
Dass es auch eine Zunahme von Vernunft, Wissen, Verständnis, Gelassenheit, Entspannung, Heiterkeit geben könnte, wäre eine Überlegung, die angestellt werden sollte, aber leider nicht wird. Ausserdem fehlt das Spielerische. Oft vermisse ich eine gewisse Lockerheit und Unbeschwertheit der Wachstumspropheten. Ich sähe sie gern einmal lachen.
Genau genommen müsste ich jetzt mit dem Schreiben aufhören, weil mir sonst vorgehalten wird, dass es mit meiner Entspannung und Gelassenheit nicht weit her sein kann, wenn ich wie hier gegen mehr Wachstum anschreibe. Nun ja, vielleicht. Nur muss man manchmal eine Situation analysieren, um danach die sich ergebenden notwendigen Schritte unternehmen zu können.
Noch mehr? Wovon? Die Welt ist schon genug vollgestopft mit Gütern und Dingen, die wir nicht oder kaum brauchen und bald durch ein neues Produkt ersetzen. Die Lagerhallen entlang der Autobahnen durchs Mittelland, in denen die Überproduktion von Dingen, die wir produzieren, aufbewahrt werden, bis die Käuferschaft sich meldet, sagen alles aus. Für noch mehr Wachstum ist die Welt entschieden zu klein geworden. Man kann nicht 200 Liter in einen 100-Liter-Tank giessen.
Alles, was wir uns über das Notwendige leisten, zwingt uns, neue Laufräder im Mäusekäfig des Alltags einzurichten. Wer einmal hineingeraten ist, kann sich nicht mehr leicht davon absetzen. Er muss mitgehen. Noch mehr Arbeit, noch mehr Absatzsorgen und Verkaufsstrategien, noch mehr Werbung, noch mehr Stress. Es ist ein Elend, und es wäre alles so einfach.
Warum nicht sich zurücklehnen und sich sagen: Wir haben das Ziel erreicht. Wir haben, was wir brauchen. Es ist alles gut so. Romantizismus. Meinetwegen. Ich meine es nur ein Gedanken-Experiment. Ein Buch ist seinen Preis wert und der Wald gratis, bis womöglich einer kommt, die Wälder aufkauft und Eintritt verlangt für Chlorophyll und Erholung.
Der französische Autor Serge Latouche hat den Begriff der Decroissance (Wachstums-Zurücknahme) geprägt. Seine Vorschläge lauten lokale Währungen, lokale Märkte, Urban Gardening und so weiter. Alles schön und recht. Wenn das nur nicht zu einem Gartenlaubendenken führt. Latouche hat aber recht, wenn er meint, dass Decroissance heissen soll, anders und vor allem klüger zu denken und handeln. Wir können es anders haben, aber nur, wenn wir wollen.
Natürlich muss die Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Denn weniger Wachstum hat weniger Beschäftigung zur Folge. Aber auch dieser Gedankengang erweist sich als Trugschluss. Die Situation ist bereits eingetreten. Die Tatsache, dass viele Menschen keine Arbeit haben und viele andere sich mit einem Teilzeitjob oder einer prekären Arbeit abfinden und einen bescheidenen Haushalt führen müssen, sei es freiwillig oder weil sie keine andere Wahl haben, diese Tatsache hat sich längst als praktische Wachstumsbremse herausgestellt.
Mehr Wachstum könnte durch mehr Arbeitsstellen verhältnismässig schnell erzielt werden. Nur müssten dann auch angemessene Löhne bezahlt werden. Da liegt die Krux.
Doch das ist nur ein Ausweg, aber keine Lösung. Die Antwort auf die Frage, worin der tiefere Sinn von Produktion, Arbeit, Lohn, von Bedürfnis, Zeit und Leben besteht, wird zuletzt entscheiden, wie es weitergeht.
4. April 2016
"Völlig falsche Handlungs-Impulse"
Herzlichen Dank, Herr Schmidt, Sie läuten hoffentlich den Widerstand gegen das Wachstum ein! Ich hoffe, dass dieser die Menschen auf die Strassen treibt im Verein mit Gardi Hutter mit ihrem Programm "Alles Käse" zum selben Thema. Weiter ging’s gestern in der Sternstunde Philosophie zum Thema "Wie die Unruhe in die Welt kam".
Reflexion ist die Stärke unserer Gesellschaft nicht, oder ist sie etwa sogar gänzlich verloren gegangen? Speziell in der Politik, wo das Hamsterrad BIP (Bruttoinlandprodukt) völlig falsche Handlungs-Impulse aussendet! Das Gelingen geht uns verloren und wir verursachen, was wir zu verhüten vorgeben. Das Ausgeschlossene bewirkt diese Paradoxie. Im Ausgeschlossenen liegt die Intuition, sie wurde durch die Ratio in den Ausschluss gedrängt!
Bruno Rossi, Gelterkinden